/Falsche Zahlen 2018: Die Infomüll-Abfuhr

Falsche Zahlen 2018: Die Infomüll-Abfuhr

Zahlen führen ein Doppelleben. Von außen betrachtet wirken sie einfach, nüchtern, präzise und daher besonders vertrauenswürdig. Man sieht ihnen aber nicht an, was dahintersteckt: welche Befunde, welche Quellen – und vor allem welche Absichten. Dabei bleiben bestimmte Zahlen, etwa solche zur täglichen Gewalt gegen Ärzte oder zur Menge der angeblichen “Dieseltoten”, besser in Erinnerung als viele Worte – und deshalb haben manche falsche Zahlen ein langes Leben. Häufig geistern sie wie Zombies noch durch die Medien, das Netz und Gespräche, wenn die Befunde selbst längst widerlegt worden sind.

Dieser Artikel räumt deshalb auf mit Zahlen, die im Jahr 2018 die Öffentlichkeit bewegten, obwohl sie falsch oder nicht belastbar waren, obwohl sie falsch interpretiert oder verdreht wurden. Er ist die Müllabfuhr im Jahresrückblick.

Das ist nicht so simpel, wie es klingt. Denn es ist viel schwieriger, etwas aus der Welt zu schaffen, als es in sie hineinzusetzen. Im Forscherjargon gesprochen: “Die Menge Energie, die nötig ist, um Bullshit zu widerlegen, ist zehnmal so groß wie die Energie, die nötig ist, um ihn zu produzieren.” Formuliert hat diesen Satz der italienische Programmierer Alberto Brandolini. Und als “Brandolinis Gesetz” hat es das Bullshit-Asymmetrie-Prinzip bis in die Wissenschaftszeitschrift
Nature
geschafft.

Zehnmal so viel Energie für die Beseitigung von Unsinn wie für dessen Verbreitung – das kann natürlich nur eine grobe Schätzung sein. Schon weil selbst der größte Einsatz nicht den Entsorgungserfolg garantiert. Das mussten Forscher in vielen Studien feststellen, allen voran Stephan Lewandowsky von der University of Western Australia. Unter den Psychologen ist er der Entsorgungsexperte. Und Lewandowsky kam zu dem Schluss: “Egal wie energisch und wie oft wir eine Fehlinformation korrigieren, zum Beispiel indem wir die Richtigstellung mehrfach wiederholen – ihr Einfluss bleibt nachweisbar.” Ja, etwas Falsches zu widerlegen, kann es in den Köpfen sogar stärker verankern, wie Versuche gezeigt haben. Das liegt am Gehirn selbst, aber auch daran, dass man beim Berichtigen einiges falsch machen kann.

Deswegen hat Lewandowsky zusammen mit dem Kognitionsforscher John Cook einen Leitfaden der Widerlegung geschrieben,
The Debunking Handbook.
So lauten ihre wichtigsten Tipps für die Informationsmüllabfuhr:

  • Falsches nicht wiederholen – Wenn man die Fehlinformation in der Berichtigung noch einmal aufgreift, wird sie vertrauter. Und Vertrautes halten Menschen ganz unwillkürlich eher für wahr. Zudem geht beim Abruf aus dem Gedächtnis leicht der Kontext (“Das stimmte doch gar nicht!”) verloren. Dann erinnert man sich zwar an das Falsche, aber nicht an dessen Falschheit. Zeigt man Versuchspersonen zum Beispiel eine Fehlinformation und klärt sie über den Fehler auf, passiert es nicht selten, dass sie die Information einige Zeit später als richtig erinnern.
  • Deutlich warnen – Jede Info-Müllfrau, jeder Info-Müllmann steht daher vor dem Dilemma: Wie etwas berichtigen, über das man am besten gar nicht spricht? Lewandowsky und Cook raten, wenigstens zuerst die richtige Information zu nennen, erst dann die falsche. Und: besonders deutlich machen, dass diese nicht stimmt. Im Experiment konnte Lewandowsky zeigen, dass eine ausdrückliche Warnung zumindest dazu führen kann, dass Menschen sich
    weniger
    auf Falsches verlassen. Ganz verhindern kann sie es jedoch nicht.
  • Lücke füllen – Weil das Etikett “falsch” im Gedächtnis so leicht verloren geht, sollte man zusätzlich unbedingt Angaben liefern, die an die Stelle der falschen treten können. Das entschärft auch ein weiteres Problem: Wenn eine Information als falsch entlarvt wird, bleibt an deren Stelle eine Lücke im Kopf. Und das macht rückfällig. “Die Leute ziehen ein fehlerhaftes Bild einem lückenhaften vor”, sagt Lewandowsky. Am besten ersetzt man falsche Angaben natürlich durch richtige. Sind die (noch) nicht verfügbar, hilft auch die Erklärung, warum etwas falsch ist – und wer es warum in die Welt gesetzt hat.

Infomüll-Entsorger haben also keinen ganz einfachen Job. Aber Forscher haben auch herausgefunden, was auf jeden Fall hilft: gute Beziehungen. Eine Studie mit Korrekturen auf Twitter zeigte, dass Nutzer Berichtigungen eher akzeptierten, wenn sie den jeweiligen Faktencheckern folgten oder diese ihnen. Also können auch Freunde und Bekannte eine wichtige Rolle bei der Bullshit-Beseitigung spielen. Von ihnen lassen sich viele Menschen eher etwas sagen.

Wenn Sie also demnächst im Gespräch mit Freunden auf eine der folgenden Zahlen
stoßen: Bitte richtig entsorgen!

Anstieg der Leitungswasserpreise – die Zahl auf falscher Basis

Leitungswasser ist teurer geworden. So ganz knapp gesprochen stimmt das. Ausführlicher müsste man sagen: Im Bundesdurchschnitt ist Wasser über einen bestimmten Zeitraum teurer geworden – allerdings nur ein bisschen. Von dieser Nachricht aber hätte wohl niemand Notiz genommen.

Omnipräsent war hingegen Mitte Mai eine starke zahlenmäßige Botschaft: Um 25 Prozent sei der Preis von Leitungswasser gestiegen, behauptete der Verbraucherexperte der Bundestagsfraktion der Grünen, Markus Tressel.

Ihren Weg in die öffentliche Aufmerksamkeit fand diese Zahl so, wie es viele politische Zahlen tun, über den “Vorab-Weg”. Weil Journalisten eher über Studien und Papiere berichten, wenn sie diese als Erste bekommen, geben Politiker (ebenso wie Forscher, Lobbyisten und Co.) ihre Zahlen oft “vorab” einer einzigen Redaktion, zum Beispiel der
ZEIT.
In diesem Fall gab Tressel seine Wasserpreis-Analyse vorab der
Saarbrücker Zeitung
. Die Botschaft: Wegen Gülle und anderen Drecks wird das Leitungswasser teurer. Die Analyse, erfuhr der Leser, basiere auf neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamts und beziehe sich auf den Zeitraum von 2005 bis 2016. Daraufhin durfte Tressel dann strengere Regeln für Gülle, Pestizide und Medikamente in der Landwirtschaft fordern, “um Trinkwasser als unser wichtigstes Lebensmittel zu schützen”.

Noch zu nachtschlafender Zeit verschickte die
Saarbrücker Zeitung
am 11. Mai, einem Freitag, die Meldung, die wiederum mehrere Nachrichtenagenturen und viele andere Redaktionen übernahmen. Im Fernsehen und auf vielen Websites tauchte die Nachricht im Laufe des Tages auf. Dann meldete sich das Statistische Bundesamt zu Wort: “Die Aussage, Trinkwasser wird immer teurer”, sei in dieser Form “nicht haltbar”. Tatsächlich fußte Tressels Analyse schlicht auf einer falschen Basis; schaut man in die richtige Statistik, ergibt sich für 2005 bis 2016 im Bundesdurchschnitt eine Erhöhung um 17,6 Prozent. Im Vergleich zum Anstieg aller Verbraucherpreise in dem Zeitraum sind das beim Leitungswasser gerade einmal anderthalb Prozent mehr.

Am Samstag, dem Tag nach den Schlagzeilen, veröffentlichten die Grünen eine Korrektur. Auch viele Nachrichtenartikel wurden korrigiert. Wer jetzt danach sucht, der findet die richtige Rechnung. Größere Aufmerksamkeit erfahren hat die falsche.

Stefan Schmitt

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Gewalt gegen Ärzte – die vervierfachte Zahl

Von “alarmierenden Ergebnissen” sprachen die Ärzte-Vereinigungen: Im Mai schockten sie die Öffentlichkeit mit einer Umfrage unter Medizinern, wie oft diese in ihrer Praxis Gewalt erlebten. Das Resultat, das die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der NAV-Virchow-Bund kurz vor dem Ärztetag veröffentlichten, schien auf eine enorme Verrohung der Patienten hinzudeuten. Prompt griffen viele Medien die Umfrage auf, und auch Gesundheitsminister Jens Spahn empörte sich auf dem Ärztetag öffentlichkeitswirksam über Gewalt gegen Ärzte.

Erst eine genaue Recherche der
ZEIT
ergab: Die von den Ärzte-Vereinigungen in die Welt gesetzte Zahl war falsch (
ZEIT
Nr. 21/18). Tatsächlich kommt es 75-mal pro Arbeitstag zu körperlichen Angriffen oder Bedrohungen in deutschen Arztpraxen (und nicht zu 288 Vorfällen, wie vermeldet). Nun klingen auch 75 Fälle nach recht viel. Bezieht man diese Zahl allerdings auf
alle
Begegnungen zwischen Ärzten und Patienten in Deutschland, ergibt sich: Nur bei 0,0015 Prozent aller Kontakte kommt es in deutschen Arztpraxen zu Gewalt.

Mit der
ZEIT
-Recherche konfrontiert, räumte der Sprecher der KBV, Roland Stahl, ein: “In unseren schnellen Berechnungen haben wir hier eine zu hohe Zahl ermittelt.” Die Statistik hatte unbedingt bis zum Ärztetag fertig werden sollen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die Auswerter verwechselten jedoch die Untergruppe derjenigen Ärzte, die irgendwann einmal in ihrer Praxistätigkeit Erfahrung mit körperlicher Gewalt gemacht hatten, schlicht mit der Gesamtzahl aller befragten Ärzte. So entstand die viermal höhere, falsche Zahl.

Nachdem sie auf den Fehler hingewiesen worden waren, tauschten die Ärzte-Vereinigungen die Zahl in ihren Pressemitteilungen diskret aus, allerdings ohne auf die Korrektur hinzuweisen und ohne sonst etwas zu ändern. Bis heute ist in den Mitteilungen die Rede von “alarmierenden Ergebnissen”. Dass das am prominentesten präsentierte Resultat nur ein Viertel des ursprünglichen Alarmwertes beträgt, erfährt der Leser nicht.

Stefanie Kara

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Tote durch Luftverschmutzung – die zugespitzte Zahl

“Dieseltote” – dieses Wort sollte man sich verkneifen, wenn man beim Umweltbundesamt (UBA) anruft. Sonst wird es gleich ein bisschen lauter am anderen Ende. “Wir haben niemals von Dieseltoten gesprochen oder geschrieben!” Damit hat der Wissenschaftler vom UBA recht. Aber das Amt hat die Zahl in die Welt gesetzt, die als Basis für die Zuspitzung “Dieseltote” diente. Das Schlagwort ist falsch, die Auswahl der Zahl zumindest fragwürdig.

Forscher hatten im Auftrag des UBA beziffert, wie schädlich Stickstoffdioxid ist. Zu ihrer Studie gab das UBA im März eine Pressemitteilung heraus. Sehr prominent, schon im dritten Satz, wurde darin folgende Größe präsentiert: die Zahl der “vorzeitigen Todesfälle aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen”, die sich statistisch “auf die NO2-Hintergrund-Belastung im ländlichen und städtischen Raum zurückführen” ließen. Aus dieser ebenso korrekten wie komplizierten Beschreibung wurden schnell die “Dieseltoten”, zuerst in einem
Bild-
Kommentar, dann verbreitete sich das Schlagwort rasch.

Dieses Schlagwort ist schon deshalb falsch, weil nicht nur Dieselautos Stickoxide ausstoßen. Wichtiger aber: Als Größe sind die vorzeitigen Todesfälle unter Statistikern und Epidemiologen umstritten, weil ihre Aussagekraft begrenzt ist
(ZEIT
Nr. 12/18). So geht beispielsweise jeder Tote, egal ob er 30 Jahre oder fünf Tage eher stirbt, als es seine Lebenserwartung verheißt, in gleicher Weise in die Statistik ein.

Fachleute verwenden lieber eine andere, deutlich aussagekräftigere Größe, die der verlorenen Lebensjahre. Das ist die Differenz zwischen der Lebenserwartung und dem Sterbealter. In der Studie stand auch sie: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die auf die Belastung durch NO2 zurückzuführen sind, kosteten in Deutschland etwa 50.000 Lebensjahre im Jahr 2014. Bezogen auf gut 80 Millionen Einwohner wären das im Schnitt: etwa acht verlorene Stunden pro Kopf und Jahr. Klingt nicht so dramatisch? In die Öffentlichkeit trug das UBA diese Zahl nicht – stattdessen vermeldete es “etwa 6000 vorzeitige Todesfälle”.

Wer gut ein halbes Jahr später beim UBA fragt, ob man dort wieder so handeln würde, der erhält eine umständliche schriftliche Antwort. Zusammengefasst: Man wolle weiterhin Zahlen über vorzeitige Todesfälle einsetzen – auch weil sie weniger abstrakt seien. Aber: “Nachdem häufiger an das UBA herangetragen wurde, dass auch die Zahl der verlorenen Lebensjahre durchaus verständlich ist, werden wir diese Maßzahl vermehrt in unserer Kommunikation berücksichtigen.” – Die dramatische Zahl vom März bleibt aber in der Welt. Noch immer taucht sie in den Medien auf, im Oktober etwa im
Spiegel
und in der
Süddeutschen Zeitung.
Immerhin war nicht von “Dieseltoten” die Rede.

Jan Schweitzer

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Das Ausmaß des Insektensterbens – die überinterpretierte Zahl

Keine Zahl hat in jüngerer Vergangenheit mehr Aufmerksamkeit für den Artenverlust geweckt als diese: Um 75 Prozent ist die Biomasse fliegender Insekten in Schutzgebieten in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg binnen 27 Jahren zurückgegangen. Diese Zahl ist das auf zwei Ziffern verknappte Alarmsignal aus der “Krefelder Studie”, die 2017 Schlagzeilen machte (siehe
ZEIT
Nr. 44/17) und 2018 politische Wirkung zeigte: Im Sommer beschloss die Bundesregierung Maßnahmen zum Insektenschutz, im Herbst kam ein Aktionsprogramm des Umweltministeriums hinzu, ausgestattet mit mehreren Millionen Euro.

Fällt das Wort “Insektensterben”, fällt ziemlich sicher bald auch diese Zahl. Das liegt allerdings auch daran, dass sie häufig falsch interpretiert wird, im Bundestag, in Zeitungen, im Fernsehen. Oft heißt es, sie zeige die Abnahme der Artenvielfalt bei Insekten. Oft wird sie auf ganz Deutschland angewendet. Beides stimmt nicht. Ermittelt hat der Entomologische Verein Krefeld nur das Gesamtgewicht aller fliegenden (!) Insekten, die in bestimmten Schutzgebieten in eigens aufgestellte Fallen geraten waren. Aus welchen Arten sich diese “Biomasse” zusammensetzte, wurde nicht untersucht.

Was allerdings stimmt: Andere Quellen deuten darauf hin, dass auch die Vielfalt der Insekten zurückgeht – etwa die Roten Listen. Als Anlass, gegen den Insektenschwund anzugehen, hätten die längst ausgereicht. Auf eine erschreckende Zahl ließen sie sich aber nicht verknappen. Aufsehen erregte erst die überinterpretierte Zahl aus Krefeld.

Von dort gab es übrigens im Herbst dieses Jahres erste Ergebnisse zum Arten-Mix in den Fallen. Erst jetzt zeigen die Daten: Die Vielfalt scheint wirklich zu schwinden.

Fritz Habekuß

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Wie dreckig Kreuzfahrtschiffe sind – die Pi-mal-Daumen-Zahl

Kreuzfahrtschiffe pusten so einiges in die Luft: Schwefeldioxid, Stickoxide, Feinstaub und Kohlendioxid. Wie viel schmutziger sind sie als andere Verkehrsmittel – zum Beispiel Autos? Es kursiert eine Antwort darauf in Gestalt einer Zahl, die vom Naturschutzbund Deutschland (Nabu) stammt. In der Kampagne “Mir stinkt’s – für eine saubere Kreuzschifffahrt” hatte der Nabu einst behauptet: “Ein einziger Ozeanriese stößt auf einer Kreuzfahrt so viele Schadstoffe aus wie fünf Millionen Pkw auf gleicher Strecke.” Diese Zahl tauchte auch 2018 wiederholt in der Öffentlichkeit auf, wie ein numerischer Wiedergänger, ein Zahlenzombie. Aber sie ist gleich aus zwei Gründen falsch.

Die verschiedenen Schadstoffe kann man nicht einfach in einen Topf werfen, und im Einzelnen fallen die Vergleiche ganz unterschiedlich aus, wie der Nabu selbst berechnet hat: Ein Kreuzfahrtschiff stößt so viel CO2 aus wie 84.000 Autos, aber so viel Schwefeldioxid wie 376 Millionen. Die propagierten fünf Millionen Autos tauchen in den Daten gar nicht auf. “Die Zahl haben wir gewichtet nach der Bedeutung der Schadstoffe grob als Quersumme ermittelt”, erklärte Dietmar Oeliger, Leiter der Nabu-Abteilung Verkehrspolitik, im vergangenen Jahr
(ZEIT
Nr. 36/17). Keine exakte Berechnung also, sondern eine Pi-mal-Daumen-Schätzung.

Zudem hatte der Nabu gar nicht die Schadstoffe
auf gleicher Strecke
, sondern
pro Tag
verglichen. Doch pro Tag legt ein Kreuzfahrtschiff oft mehrere Hundert Kilometer zurück, ein durchschnittliches deutsches Auto aber nur 36. Im Schnitt sitzen anderthalb Fahrgäste im Auto, auf dem Schiff bis zu 9000. Bezogen auf die Passagierkilometer schrumpft die Vergleichszahl deshalb: Da landet man schnell bei weniger als hundert Autos statt mehreren Millionen. Auf erneute Nachfrage beteuert Oeliger nun: “Mit der Zahl von fünf Millionen operieren wir heute eigentlich nicht mehr.” Eigentlich? Auf der Website des Nabu findet sie sich immer noch. Das habe technische Gründe, sagt der Naturschützer. “Man müsste eigentlich den ganzen Datensatz durchforsten, aber ich habe anderes zu tun, als drei Jahre alte Zahlen zu korrigieren.”

Dirk Asendorpf

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Tote durch Antibiotika-Resistenzen – die arg hochgerechnete Zahl

90 Jahre alt ist das Penicillin in diesem Jahr geworden. Am 3. September 1928 hatte der schottische Arzt Alexander Fleming es entdeckt. Zum Jubiläum aber gehört auch die Warnung vor der Ausbreitung resistenter Keime – von Bakterien also, denen mit Penicillin und anderen Antibiotika nicht mehr beizukommen ist. Die Funde solcher Keime in Krankenhäusern nehmen zu, auch die Fälle, in denen Ärzte zum allerletzten Mittel (“Reserveantibiotikum”) greifen müssen. Leider tauchen in den Warnungen immer wieder zwei höchst fragwürdige Zahlen auf. “Jährlich 700.000 Tote durch Antibiotika-Resistenzen”, heißt es da, und: Bis zum Jahr 2050 würden daraus “jährlich 10 Millionen Tote”.

Beide Werte stammen aus einem Bericht an die britische Regierung aus dem Jahr 2014. Geliefert haben sie nicht Forscher oder WHO-Experten, sondern Unternehmensberater der Wirtschaftsprüferfirma KPMG. Deren Schätzung haben Fachleute um Marlieke de Kraker von der Universität Genf schon Ende 2016 im Fachjournal
PLoS
auseinandergenommen. Auf “krude” Weise sei der Wert der jährlichen Toten ermittelt worden, als Hochrechnung nicht repräsentativer Fallzahlen. Und die Horrorzahl für 2050 beruhe lediglich auf Annahmen. “Bislang gibt es keinerlei empirische Daten, die diese Szenarios stützen”, lautete de Krakers vernichtendes Urteil.

Kurz nach Erscheinen der
PLoS
-Studie berichtete
Spiegel Online
ausführlich über die Richtigstellung. Doch weder Fachaufsatz noch Journalismus scheinen die richtige Arznei gewesen zu sein. Jedenfalls gaben zu Flemings Jubiläum am 3. September 2018 erneut Dutzende Artikel in anderen Medien die unhaltbaren Werte unkritisch wieder. Seit November gibt es nun immerhin neue Zahlen, zumindest für den Status quo. Forscher der europäischen Seuchenschutzbehörde ECDC beziffern die Toten aufgrund von Antibiotika-Resistenzen auf 33.000 im Jahr. Auch dies ist eine Schätzung und nur auf Europa bezogen, aber dafür auf einer belastbareren Basis. Doch das Penicillin gegen haltlose Horrorzahlen wird noch gesucht.

Stefan Schmitt

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