/Boyle Heights: Morrisseys Lieder sind traurig, das Leben ist traurig

Boyle Heights: Morrisseys Lieder sind traurig, das Leben ist traurig

Ich habe Besuch aus Berlin und überrede ihn, mich nach Boyle Heights im Osten von Los Angeles zu begleiten. Dort gibt es eine Bar, wo einmal im Monat ein Karaokeabend stattfindet, der allein The Smiths und Morrissey gewidmet ist. Ab 21.30 Uhr strömt das aufgekratzte Publikum durch die dicke Holztür, drinnen rote Satintapeten an den Wänden und viel dunkles Holz, der breite, tiefergelegte Tresen wird später als Bühne dienen. Ich bin erst zum zweiten Mal hier, werde aber gleich freundlich begrüßt: Hey, ich kenne dich! Ooops, denke ich, war meine Darbietung letztes Mal so unterirdisch? Die Latte hängt hier ziemlich hoch. Ein Morrissey-Lookalike (ähnlicher Jahrgang, schlank, akkurat frisierte graue Haartolle, weit offenstehendes Oberhemd zu dunkler Anzughose) reicht eine Liste herum, auf der sich schnell diejenigen eintragen, die hier heute gern auftreten möchten.

Boyle Heights: Annette Weisser ist Künstlerin und pendelt zwischen Los Angeles und Berlin. Sie lehrt seit 2007 im Graduiertenprogramm Freie Kunst am Art Center College of Design, Pasadena. 2015 erschien die Monografie "Make Yourself Available" im Verlag The Green Box. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".

Annette Weisser ist Künstlerin und pendelt zwischen Los Angeles und Berlin. Sie lehrt seit 2007 im Graduiertenprogramm Freie Kunst am Art Center College of Design, Pasadena. 2015 erschien die Monografie “Make Yourself Available” im Verlag The Green Box. Sie ist Gastautorin von “10 nach 8”.
© privat

Der DJ, der zu Beginn des Abends Indiehits aus den 1980ern gespielt hat, zoomt nun ein auf die Musik der Smiths. Grüppchen von Freunden singen sich warm, dramatisches Posen rechts und links. Der vorherrschende Style ist American Blue Collar: Arbeitsstiefel, Holzfällerhemden, Lederjacken, dazu pomadierte, schwarze Haarschöpfe. Vereinzelt spannen sich Fan-T-Shirts aus der fast 40-jährigen Karriere von Morrissey über Frauen- und Männerbrüste. Junge und Ältere, alle Hispanics, außer uns. Die MC des Abends begrüßt das Publikum und stellt die Regeln vor: Geburtstagskinder kommen zuerst dran, dann die Neulinge, dann die Stammgäste. Niemand wird ausgebuht. Die MC hat kurzgeschorene Haare, trägt abgewetzte Jeans, ein verwaschenes “How Soon Is Now?“-T-Shirt und kein Make-up. Sie holt als erstes ihre Schwester auf die Bühne, die heute Geburtstag hat: “She’s the pretty one!” Die hübsche Schwester trägt Petticoat und beginnt den Abend mit Sheila Take a Bow. Es ist Ehrensache, dass die Texte auswendig gewusst werden; wer ins Schlingern kommt, hält das Mikro einfach nach unten vor die Münder in der ersten Reihe.

Der Morrissey-Lookalike singt nun I Have Forgiven Jesus in spanischer Übersetzung und mit perfekter Choreografie. Ich frage ihn nach seinem Auftritt, wie viele Songs er übersetzt hat, und er antwortet: “Nur meine Lieblingslieder, so ungefähr 60.” Lateinamerikas Liebe zu all things Morrissey – “Moz” – ist längst gut belegt. Es gibt den wunderbaren Dokumentarfilm von William E. Jones Is It Really So Strange? aus dem Jahr 2005 über die Fanszene in East Los Angeles und aus demselben Jahr das Karaoke-Projekt El Mundo No Escuchará des britischen Künstlers Phil Collins, in Bogotá produziert. Im Vorspann zu Is It Really So Strange? spricht Jones darüber, wie überrascht er war, junge Hispanics in Los Angeles zu einer Musik feiern zu sehen, die er selbst einst als schwuler Teenager im Mittleren Westen der USA geliebt hatte. Im Film wird deutlich, wie die Fans – Männer wie Frauen – ihre eigene ambivalente Sexualität auf ihr Idol projizieren und dessen sexuelle Ambivalenz als Spiel- und Rückzugsraum definieren, innerhalb einer heteronormativen hispanischen Gesellschaftsordnung.

“Es sind die Texte”, antwortet mein ganz offensichtlich schwuler Tischnachbar auf meine Frage, warum er Morrissey liebt. “Sie sind poetisch und melancholisch, so wie ich.” – “Singst du heute Abend?” – “Nein, ich bin zu schüchtern!” Woraufhin der ganze Tisch die Anfangszeilen von Ask anstimmt. Mein Besuch unterhält sich derweil mit einem dicken Fleischhändler, der mit seiner Freundin hier ist. “Mexikanische Volkslieder sind traurig. Morrisseys Lieder sind traurig. Das Leben ist traurig!” Dabei grinst er und nimmt einen großen Schluck aus seiner Ein-Liter-Corona-Flasche. Die Stimmung ist ausgelassen, alles andere als melancholisch. Das kollektive Bekenntnis zum Außenseitertum (“See the life I had, it would turn a good man bad“) erzeugt eine Wärme, die uns Außenseiter aus Berlin umstandslos mit einschließt. Niemand hier drin bemüht sich um Coolness.

Ein Typ mit glattrasiertem Kopf und Intellektuellenbrille, den alle im Raum zu kennen scheinen, klettert auf den Tresen. Er hat sich für ein Lied vom Morrissey-Album Strangeways Here We Come entschieden: “A rush and a push and the land that we stand on is ours. It has been before so it shall be again.” Klar, denke ich: Kalifornien gehörte bis zum Mexikanisch-Amerikanischen Krieg im 19. Jahrhundert zu Mexiko. Viele Wochen lang dominierten die schrecklichen Bilder von internierten Flüchtlingskindern, die an der Grenze gewaltsam von ihren Eltern getrennt wurden, die internationalen Schlagzeilen dieses Jahres. Aber heute Abend geht es um etwas anderes: “Stop gentrification, save Boyle Heights!” ruft der Sänger unter Beifall ins Publikum.

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