/Binnenmigration: Landlust? Wie Unternehmen Fachkräfte in die Provinz locken

Binnenmigration: Landlust? Wie Unternehmen Fachkräfte in die Provinz locken

Florian Nachtigall hat so manche
Probleme mit Walldorf. Er will nicht jeden Abend im Pfälzer Hof seine Pommes
bestellen und sonntags in der Schlange beim Bäcker Stumpf jeden einzelnen Nachbarn
begrüßen müssen. Er will hier nicht wohnen, er will dort nicht unnötig Zeit
verbringen. Aber er arbeitet hier, bei SAP, dem großen
deutschen Softwareunternehmen.

Nachtigall, 22 Jahre alt, hat vor vier
Jahren sein Duales Studium bei SAP begonnen und ist dort seit einem Jahr
fest angestellt als Associate Developer in der technischen Entwicklung. Von Hamburg,
wo er aufgewachsen ist, ist er für die Arbeit umgezogen. Er wollte diesen Job,
aber dafür in die 15.000-Einwohner-Stadt Walldorf zu ziehen, kam für ihn nicht
infrage. Er entschied sich, nach Mannheim zu ziehen: 30 Kilometer von Walldorf
entfernt, immerhin 300.000 Einwohner. “Das ist für mich die absolute
Untergrenze”, sagt er. In einer noch kleineren Stadt zu leben, kann er sich
nicht vorstellen. Dafür ist er täglich zwei Stunden mit Bus und Bahn unterwegs.

Stricken, Waldkräuter sammeln und Marmelade einkochen?

VW, Adidas, Audi, Bertelsmann, Lidl,
Zeiss oder eben zum Beispiel SAP sind Unternehmen, die ihre Firmensitze in
kleinen Städten haben, in denen sie meist der einzige große Arbeitgeber sind.
Viel wurde in den vergangenen Jahren darüber geschrieben, dass immer mehr junge
Menschen aufs Land ziehen wollen. Weil sie dort Kinder bekommen wollen, weil
sie keine Lust mehr haben, in den Großstädten hohe Mieten zu zahlen. Weil sie
wieder in die Nähe ihrer Familie ziehen wollen. Die angebliche Landlust von
jungen Großstädtern
schlägt sich seit Jahren als Lebensgefühl nieder im Erfolg
von Zeitschriften wie Liebes Land oder eben Landlust, in Trends wie
Stricken, Wildkräutersammeln oder Marmelade-Einkochen. Und tatsächlich: 2014
sind zum ersten Mal mehr Menschen aus den größten deutschen Städten weggezogen als
hinzugekommen, so Ergebnisse des Statistischen Bundesamts.

Und die Tendenz setzt sich fort. Laut
eines Marktberichts des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung sind
es vor allem 30- bis 50-Jährige, die das Weite suchen – oft Menschen also, die
mitten im Leben stehen, womöglich Karriere machen und vielleicht gerade darum nicht
mehr ständig im Mittendrin sein wollen. Eine aktuelle Bertelsmann-Studie
besagt
: Während Ausbildung und Studium liegen Großstädte im Trend, danach
punkten Klein- und Mittelstädte. Die Gründe sind auch hier fast immer
dieselben: Anbindung an die Familie. Billige Mieten. Mehr Platz. Mehr
Kitaplätze. Mehr Ruhe. Mehr Grün.

Heißt das nun, dass sich die Arbeitgeber
in der Provinz kaum retten können vor Bewerbern? Im Gegenteil. Valeria Manca,
HR-Referentin beim Personaldienstleiter Adecco Germany Holding, hat Erfahrung
damit, Berufstätige aufs Land zu locken. Sie ist zuständig für die Rekrutierung
im Bereich Vertrieb und weiß, dass es schwierig ist, Mitarbeiter zu finden, die
bereit sind, für die Karriere in einen kleinen Ort zu ziehen. “Die
Infrastruktur und die Auswahl an verschiedenen Arbeitgebern machen Großstädte
für junge Leute immer noch hochinteressant.”

Flexible Arbeitszeiten helfen beim Pendeln

Dieselben Probleme kennt auch Florian
Mezger nur zu gut. Er ist Head of Recruiting des Optik-Unternehmens Carl Zeiss AG.
Sitz: Oberkochen, 8.000 Einwohner stark. Wie kriegt man Menschen in die
schwäbische Provinz? “Natürlich bekommen wir Absagen wegen des Standorts”, sagt
Mezger. Echte Großstadtfans, diese Erfahrung hat er gemacht, bekämen sie
einfach nicht her. Es mache auch gar keinen Sinn, diese Menschen anzusprechen:
“Die suchen ein anderes Umfeld und das ist dann eben so.”

Bei den Kandidaten, die nicht unter
allen Umständen in Berlin oder München leben wollen, versucht er zu
hinterfragen, was sie fürchten zu vermissen, was sie abschreckt von Oberkochen.
Wer sich partout nicht von der Großstadt lösen kann, den versucht er mit den
Großstädten im Umfeld zu locken. “Rund 30 Prozent der Mitarbeiter hier am
Hauptstandort pendeln”, erzählt er. Manche nur knapp 60 Kilometer nach Ulm,
andere mehr als 80 Kilometer bis nach Stuttgart. Firmen, die nicht mit dem
Standort locken können, müssen anderes überzeugen: Zeiss versucht seinen
Mitarbeiter mit flexiblen Arbeitszeiten und mobilem Arbeiten das Pendeln oder
die Entscheidung für Oberhofen leichter zu machen.

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