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Migration: Weihnachten im Willkommensland

Neulich traf ich einen meiner früheren Schüler, einen jungen Albaner, der
in seiner Heimat Krankenpfleger war und nun bei uns in Norddeutschland eine Ausbildung zum
Altenpfleger macht. Er hatte gerade seine Führerscheinprüfung bestanden, aber noch aus anderem
Grund war er bester Laune. Folgendes war während der Prüfung passiert: Im Gewerbegebiet von
Husum sollte Arian* das Einparken demonstrieren, da sah er im Rückspiegel, wie ein Mann auf
dem Parkplatz zusammenbrach und reglos liegenblieb. Reflexhaft stoppte der Prüfling, sprang
aus dem Auto, eilte zu dem Gestürzten – und erkannte, dass der einen Herzstillstand hatte.

Unter den Augen des Fahrlehrers und der Prüferin, die hilflos zusahen, begann er mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung. Er konnte den Mann reanimieren, bis der Krankenwagen kam und ein Notarzt alles Weitere regelte. Am Tag danach berichtete Arian mir voll Freude vom Anruf des Fahrlehrers: Der Mann habe überlebt! Doch ich konnte mich nicht recht freuen. Denn Arian gehört zu jenen Flüchtlingen, die abgeschoben werden sollen, sobald sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben (deshalb wollte er für diesen Artikel auch nicht fotografiert werden). Seit vier Jahren lebt er mit dem Status der “Ausbildungs-Duldung” in Friedrichstadt. Ob der Gerettete weiß, was für einen Schutzengel er hatte? Für den jungen “Ausländer”, der so beherzt half, sind Mitgefühl und Hilfsbereitschaft offenbar keine leeren Worte – aber für uns? Wie ernst ist es uns in Deutschland mit dem Willkommen?

Solche Fragen stelle ich mir, seit ich im Sommer 2015 in Friedrichstadt begann, Flüchtlinge zu unterrichten. Ich bin Lehrerin für Deutsch und Kunst, habe lange als Sekretärin gearbeitet, seit 2012 bin ich pensioniert. Einer der Kurse, die ich gab, nannte sich STAFF, “Starterpaket für Flüchtlinge”, darin wollte ich den Neuankömmlingen zwei Monate lang die Basis der deutschen Sprache vermitteln und ihnen in kleinen Exkursionen zeigen, wo sie gelandet sind. Ich ahnte nicht, dass daraus ein Integrationskurs werden würde – nicht nur für sie, auch für mich. Durch sie tauchte ich ein in fremde Welten und Gebaren.

Zweieinhalb Jahre lang unterrichtete ich insgesamt 60 Schüler aus 12 Nationen: Somalia, Eritrea, Syrien, dem Iran, dem Irak, Palästina, Polen, Russland und Ukraine, Afghanistan, Jemen und Albanien. Der jüngste Schüler war 17 und “alleinreisend”, der älteste über 50 und hatte Familie. Sie kamen aus verschiedensten Berufen und Milieus: Journalist, Fotografin, Mechatroniker, Kinderärztin, Kosmetikerin, Hausfrau, Englischlehrerin, Fliesenleger, Elektriker, Kurator, Polizist, Geschichtslehrer und Bauer.

Diese Vielfalt passte eigentlich wunderbar zu der Stadt, in der ich lebe. 1621 von Herzog Friedrich III. gegründet, fanden in Friedrichstadt einst Niederländer Zuflucht, vor allem verfolgte Remonstranten, denen der Herzog Religionsfreiheit gewährte. Später siedelten sich auch Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften an, in der “Stadt der Toleranz”.

Hier nun strandeten sie, unsere ersten vierzig Flüchtlinge des Jahres 2015, und hatten Glück. Denn sogleich bildete sich ein runder Tisch und warb um “Kümmerer”: Einheimische, die einem Flüchtling oder einer Flüchtlingsfamilie zur Seite stehen wollten. Diese Kümmerer trafen sich regelmäßig im Franziskusraum der katholischen Kirche. Ich wollte von Anfang an einen Deutschkurs anbieten. Leider lautete die Vorgabe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge an die zuständige Volkshochschule Husum: Der Unterricht muss am Vormittag stattfinden! Da hatte natürlich keine Schule in Friedrichstadt einen Klassenraum frei. Unbürokratisch erlaubte mir jedoch der ehemalige Bürgermeister Eggert Vogt, den Sitzungssaal des Rathauses zu benutzen – dank der Bogenfenster ein heller und prachtvoller Raum.

Zu meinen ersten Weihnachtserinnerungen an die Schüler gehört diese: Einige kommen aus abgelegenen Bergdörfern und sind entzückt über das geschmückte Friedrichstadt, die im Wasser der Grachten sich spiegelnden Lichter. Wir zelebrieren im Unterricht den Advent, schmücken einen Kranz und zünden Kerzen an. Einige, zu denen ein freundschaftliches Verhältnis entsteht, besuchen mich zu Dresdner Stollen und Sonntagskaffee, immer bringen sie selbst gebackene Köstlichkeiten mit, die nach Rosenwasser und anderen unbekannten Zutaten schmecken. Das Miteinander gelingt mühelos.

Im Unterricht verwundert mich allerdings, dass Frauen aus Syrien, dem Iran
und dem Irak häufig eine bessere Schulbildung als ihre Männer haben. Sie sprechen zum Teil
drei Fremdsprachen, die Männer dagegen waren nur sechs Jahre in der Schule. Den Grund finde
ich nie heraus. Dafür meldet sich Watah, eine jesidische Mutter von sieben Kindern zu Wort:
“Frau Ursula, der Irak ist nur für Männer!”

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