/Familienstreit: “Es ist wie Liebeskummer, nur schlimmer”

Familienstreit: “Es ist wie Liebeskummer, nur schlimmer”

Kurz vor Jesteburg, erzählt Hans Wallberg*, nimmt er immer den Fuß vom Gaspedal. Bei “Annes Ausfahrt” müsste er raus, um seine Tochter zu besuchen. Stattdessen fährt er auf der A7 weiter Richtung Norden, vorbei an Hamburg, bis Kaltenkirchen. Dorthin, wo er wohnt. Ein Glas Essiggurken, zwei Dosen Bier, etwas Aufschnitt habe er für den Abend noch zu Hause im Kühlschrank, zählt er am Telefon auf. Und eine angebrochene Dose Futter für den Hund.

Es ist Sonntagabend, der dritte Advent, drei Grad unter null, eine dünne Schneeschicht bedeckt das flache Land. Telefonieren im Auto macht Hans Wallberg, 64, nichts aus – als ehemaliger Außendienstler einer Versicherung sei sein Wagen ohnehin so etwas wie sein mobiles Büro. Und er selbst immer “on the road”. Tatsächlich hat der Mann, der viel und schnell redet, etwas Getriebenes.

Ihm steht das achte Weihnachtsfest ohne seine Tochter bevor. Anne*, so malt er sich das aus, schmückt vielleicht in diesem Moment schon den Baum. Und vielleicht streitet sie ja auch ein bisschen mit ihrer Mutter darüber, ob sie Lametta nehmen oder nicht, wie früher. Ob sie diesmal Elektrokerzen nehmen, wegen des Kindes?

Anne ist vor einiger Zeit Mutter geworden. Hans Wallberg hat seinen Enkel noch nie gesehen. Dass er schon laufen kann, hat Wallberg von seiner Schwester erfahren. Sie hat ihm auch auch ein Foto gezeigt. “Er hat unsere blauen Augen. Die von Anne und mir”, sagt Wallberg. Seine Tochter ist seit acht Jahren raus aus seinem Leben.

“Wenn sie je zurückkommt, dann nur von allein.”

Hans Wallberg

Die Zurückweisung durch das eigene Kind ist schmerzhaft. Auch weil es das eigene Versagen vor Augen führt. “Es ist wie Liebeskummer, nur schlimmer”, sagt Wallberg.

Laut Schätzungen von Soziologen gibt es rund 100.000 betroffene Eltern in Deutschland, deren erwachsene Kinder den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben. Offizielle Zahlen existieren nicht.

Die Essener Psychotherapeutin Claudia Haarmann hat mehrere Bücher über solch Kontaktabbrüche verfasst. Sie glaubt, dass deutlich mehr Familien betroffen sind, es jedoch nicht sagen. Wenn Kinder ihre Eltern ablehnen, ist das peinlich für die Eltern, wie eine Stigmatisierung. Was sollen die anderen von ihnen denken? Es fällt ausnahmslos auf die Eltern zurück. Aber haben die Kinder vielleicht doch ihre Gründe?

Eltern in Selbsthilfegruppen, sagt Claudia Haarmann, behaupten fast ausnahmslos, dass nichts vorgefallen sei. Keiner war gewalttätig, keiner übergriffig. Keiner hat sein Kind sexuell missbraucht. Sonst wären sie doch nicht mit dem Rucksack voller Sorgen, mit ihrer vermeintlichen Unschuld in so einer Selbsthilfegruppe.

Die Frage, die am meisten wehtut, ist sehr einfach: Warum will mein Kind mich nicht mehr? Die Frage, die sich anschließt, lautet: Was habe ich falsch gemacht? Claudia Haarmann glaubt: Jeder Elternteil kann tief in seinem Innersten die Antwort finden. Oft hat sie mit Sprachlosigkeit zu tun. Mit Schweigen, das nicht durchbrochen wird.

Das Phänomen Kontaktabbruch, erklärt sie, sei ein transgenerationaler Konflikt Erwachsener zwischen 30 bis etwa 50, eine Thematik der heutigen Kriegsenkel. “Sie machen Schluss, wenn eine Beziehung nicht läuft. Sie benennen Konflikte, kommunizieren offen ihren Besuch beim Therapeuten, schämen sich nicht, wenn emotional etwas nicht rund läuft”, sagt Haarmann. Früher seien Probleme geschluckt, verdrängt, verschwiegen, ignoriert worden. “Es war die klassische Art und Weise der ‘Kriegskinder’, die durch Bombardierungen in ihrer Kindheit traumatisiert wurden. Deren Eltern als Erwachsene den Krieg bewusst erlebten, ehe sie hinterher aus den Trümmern alles wieder aufbauen mussten. Die schlichtweg andere, existenzielle Sorgen hatten.”

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