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Muslime an Weihnachten: Natürlich liebe ich Weihnachten

Muslime glauben nicht, dass Jesus Gottes Sohn war. Doch das muss man auch gar nicht, um Weihnachten zu respektieren.

In
unserem Wohnzimmer stand an Heiligabend noch nie ein Tannenbaum, sondern die
Plastikpflanzen mit den roten Spitzen, die auch sonst dort standen. Als ich
klein war, saßen meine Brüder, Cousins und ich vor dem Fernseher und Mama
rollte in der Küche Fladen für unser Weihnachtsessen aus: Teigrollen mit
Kartoffelfüllung, ein Familienrezept meiner Oma. Der Teig musste in Öl getränkt
auf einem Stofftuch immer wieder ausgeweitet werden, bis er fast durchsichtig war.
Dann füllten meine Mutter und mein Onkel die hauchdünnen Fladen: Mama hielt das
eine Ende des Tuches hoch, mein Onkel hielt das andere Ende. Dann rollten
sie es gemeinsam. Danach wurden die Röllchen abermals in Schneckenform gerollt
und aufs Blech gelegt und kam in den Ofen. Dazu gab es Bulgursalat und
eingerollte Weinblätter. Geschenke gab es keine.

Die
Erwachsenen tranken türkischen Tee und uns Kindern kochte Papa Kakao mit
Sprühsahne. Manchmal durften wir sogar selber sprühen. Mit der warmen Tasse in
der Hand schauten wir Jack Frost auf
DVD, bis wir einschliefen, während meine Eltern, meine Tanten und Onkel in der
Küche quatschten und Sonnenblumenkerne knackten.

Am
Abend des ersten Weihnachtstages gingen wir immer gemeinsam in den leeren
Straßen spazieren. Hinter den erleuchteten Fenster hörte man Gespräche,
Weihnachtsmusik und Gelächter. Ich blickte in die Wohnungen und freute mich
immer, denn es sah genauso aus wie in den Filmen, die wir zuvor geschaut
hatten. Bis heute hatten wir noch nie einen Baum, keine Gans und schenken uns
nichts. Aber die Feiertage sind auch für uns besonders, weil wir als Familie
zusammenkommen.

Ich, meine Familie und alle anderen Muslime glauben nicht, dass Jesus Gottes Sohn war. Aber das müssen wir auch nicht, um Weihnachten zu respektieren.

Das
scheinen sich viele nicht vorstellen zu können. Denn ich als Muslima will
offenbar Weihnachten abschaffen – oder mein Glaube soll zumindest ein Grund
sein, dass Weihnachten langsam verschwinde: Gerade wurde die Integrationsbeauftrage
Annette Widmann-Mauz dafür kritisiert, weil ihr Presseteam eine Weihnachtskarte
verschickt hat, auf der stand “Egal woran Sie glauben… wir wünschen Ihnen
eine besinnliche Zeit und einen guten Start ins neue Jahr.” Wem jetzt nicht
aufgefallen ist, was das Problem sein soll: Das Wort Weihnachten fehlt. Und das
ist laut den Kritikerinnen und Kritikern ein Zeichen dafür, dass in Deutschland
das Christliche verschwinde. Und das scheint an Nichtchristen zu liegen, an
Menschen wie mir. Wenn ein Weihnachtsmarkt
Lichtermarkt heißt
, soll ich dafür mitverantwortlich sein.

Früher
wurde ich wütend, wenn suggeriert wurde, dass Weihnachten wegen mir und meinem
Glauben verschwinden würde – ich empfand immer wieder einen Drang, zeigen und
beweisen zu wollen, dass ich mich auch auf die Weihnachtszeit freue, auch wenn
ich nicht mitfeiere. Mittlerweile lehne ich mich zurück und finde mich damit
ab. Ich finde mich damit ab, dass meine Religion ein Feindbild und eine
Projektionsfläche für Negatives ist. Ich kenne es nicht anders. Nein, ich
möchte Weihnachten nicht abschaffen. Ich kenne auch niemanden, der das will.
Natürlich nicht, denn wer würde auf zwei Feiertage verzichten wollen?

Ich,
meine Familie und alle anderen Muslime glauben nicht, dass Jesus Gottes Sohn
war. Aber das müssen wir auch nicht, um Weihnachten zu respektieren. Ich liebe
Weihnachten, aber ich brauche keinen Tannenbaum oder Geschenke. Wir kriegen
unsere Geschenke eben an Bayram, zum Ramadanfest. Meine Mutter sagte mir
früher: “An Weihnachten freuen wir uns für die christlichen Kinder”, und das
taten wir auch. Meine Mutter ehrte die christlichen Feiertage. Sie klärte uns
sehr früh über den christlichen Glauben auf und freute sich über die vielen
Schuhpaare vor den Haustüren unserer christlichen Nachbarn – vielleicht auch
deswegen, weil es sonst nur vor unserer Haustür so aussah.

Ich machte an Heiligabend Doppelschichten, damit meine christlichen Kolleginnen und Kollegen bei ihren Familien sein konnten.

Während
meiner Zeit als Abiturientin bis zu meinen letzten Jahren als
Bachelorstudentin jobbte ich nebenbei in Cafés und Bäckereien und hörte eine
Frage, die auch andere Muslime in der Dienstleistungsbranche vor Weihnachten
oft hörten: “Kannst du die Schicht an Heiligabend übernehmen?” Natürlich konnte
ich. Ich machte an Heiligabend Doppelschichten, damit meine christlichen
Kolleginnen und Kollegen bei ihren Familien sein konnten. Nach Feierabend ging
ich mit dem übrigen Kuchen nach Hause. Dort wartete wieder unser Festtagsessen
und meine Familie auf mich und ich aß zu meinem Kakao mit Sahne mal
Schokokuchen, mal Nusskuchen und mal Streuselkuchen.

Am
Morgen des zweiten Weihnachtstages kommt bis heute jedes Jahr unsere kölsche
Nachbarin zum Frühstück, bringt selbstgebackene Vanillekipferl mit und erzählt
meiner Mutter von Heiligabend: was und wie viel sie gekocht hatte, warum die
eine Schwägerin wieder genervt hat und wie müde sie ist, und meine Mutter
erzählt ihr im Grunde jedes Jahr genau das Gleiche. Und wenn der Baum aus der
Wohnung unserer Nachbarin muss, hilft mein älterer Bruder, ihr das Riesending
runterzutragen.

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