/Christian Berkel: “Wer dem Fremden die Tür weist, sperrt sich selber aus”

Christian Berkel: “Wer dem Fremden die Tür weist, sperrt sich selber aus”

Es gibt einen Traum, den ich auch heute noch gelegentlich vor Premieren habe. Darin befinde ich mich vor meinem Auftritt in der Gasse zur Bühne. Ich gucke nach vorn, doch da stehen andere Leute, als ich erwartet hätte. Sie spielen auch nicht das Stück, für das ich wochenlang geprobt habe. Zudem tragen sie vollkommen andere Kostüme. Ich bin hier komplett falsch. Gerade will ich mich umdrehen und das sagen, da ruft auch schon der Inspizient: “Los, raus, Christian, raus!” Dann schubst er mich auf die Bühne – und ich wache auf.

Lange Zeit habe ich diesen Traum als Angsttraum erlebt. Aber irgendwann habe ich festgestellt, dass sich in ihm auch eine Sehnsucht ausdrückt: die Sehnsucht nach dem Fremden. Natürlich ist das Unbekannte zunächst einmal irritierend. Gleichzeitig gibt es nichts Spannenderes, als sich genau damit auseinanderzusetzen. Sich für das Fremde zu interessieren heißt auch, sich für das Fremde in einem selbst zu interessieren.

Für mich ist es ein Glück, einen Beruf gefunden zu haben, in dem diese Auseinandersetzung mit dem Fremden in sich gefragt ist. Der anfängliche Widerstand, den man dabei verspürt, hat mich immer angezogen. Deshalb träume ich davon, dass die Menschen die Fremdheit in sich nicht verleugnen, sondern sich mit ihr beschäftigen. Auf keine andere Art kann man sich selbst so gut kennenlernen. Wer dem Fremden die Tür weist, sperrt sich selber aus.

Wie schwierig das sein kann, weiß ich aus eigener Erfahrung. Meine Mutter wollte sich nicht mit ihrer jüdischen Herkunft beschäftigen. Für mich war es schon als Kind spürbar, dass es da starke Tabus gab. Auch miteinander haben meine Eltern nie über dieses Thema geredet, auch nicht über die harten Zeiten im Krieg oder über die Zeit, die mein Vater in russischer Gefangenschaft verbracht hat. Das waren einfach blinde Flecken. Mein Leben kam mir irgendwann vor wie ein Buch, aus dem man einzelne Kapitel herausgerissen hatte.

Deshalb fing ich vor einigen Jahren an, meine Mutter zu interviewen. Die Gespräche kippten dann oft in eine sehr merkwürdige Richtung. In dem Buch, das aus diesen Gesprächen entstanden ist, habe ich offengelassen, ob das Anzeichen einer Demenzerkrankung waren oder etwas Wahnhaftes dahintersteckte. Vielleicht war es auch eine Mischung aus beidem.

Erst durch diese Gespräche wurde mir bewusst, wie eng Erinnern und Vergessen miteinander verknüpft sind. Die Art, wie wir das eine tun, erzählt uns auch immer etwas über die andere Seite. Während des Schreibens habe ich festgestellt, dass ich in Phasen, in denen ich unter starkem Druck stehe, viel seltener träume. Jedenfalls erinnere ich mich umso deutlicher an meine Träume, je freier ich innerlich bin. Relativ leicht zu deuten finde ich die absurden Träume. Sie legen ihr Werkzeug auf den Tisch und sagen: Achtung, ich bin natürlich nicht die Wirklichkeit, aber in mir kannst du dich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen. Die realistischen Träume hingegen sind viel schwieriger zu interpretieren. Sie sagen: Das ist alles wirklich so, beweis mir mal, dass es das nicht ist!


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