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Weihnachtsbesuch: Schnell, ein Kirschwasser!

Über Verwandtenbesuche zu Weihnachten hat die Wissenschaft noch kein
abschließendes Urteil gefällt. Ist eine Tante immer zu laut, ein Onkel zu leise, die andere
Tante betrunken und die Großmutter beleidigt? Möglicherweise handelt es sich aber auch um eine
prinzipiell unabschließbare Kette von Experimenten, deren Ausgang von Jahr zu Jahr schwankt,
trotz gleichen Versuchsaufbaus und ähnlicher Werte auf der emotionalen Skala. In der Regel ist
die Gesamtbilanz leicht ins Negative verschoben, was aber von allen Beteiligten als stimmig
empfunden wird.

Soziologen haben früh festgestellt, dass sich das Setting des Weihnachtsexperiments wenig nach Gesellschaftsschichten und Nationen unterscheidet, aber erheblich in Gestalt und Gewicht der eingesetzten Versuchskaninchen. Verwandte lassen sich nicht normiert im Versandhandel beziehen wie Laborratten, das stellt den gastgebenden Versuchsleiter vor gewisse Herausforderungen. Gegebenenfalls muss er improvisieren, wenn Tante Adelheid (kurzhaarig, weiß-grau gescheckt) nicht den trockenen Sherry trinkt wie Tante Barbara (langhaarig, hirschrot gelockt), sondern gleich beim Eintreffen und noch im Mantel (Nutria, glatt schwarz) ein schnelles Kirschwasser braucht.

Anderes steht seit alters fest. Dazu gehört, dass ein Weihnachten ohne Verwandtenbesuch noch nicht erfunden wurde beziehungsweise dass Weihnachten völlig neu gedacht werden müsste, wenn man es ohne Verwandtenbesuch denken wollte. Der Besuch ist die berühmte Naturkonstante, die in der Wissenschaft stets eine große Rolle spielt.

Eine weitere Konstante wird vom Ersten Hauptsatz der Familiendynamik formuliert: Verwandte kann man sich nicht aussuchen (Gesetz der sogenannten Blindbestellung). Das Gesetz hat Vor- und Nachteile. Die Verwandten kommen fertig an, sie müssen also nicht wie Plätzchen erst mühsam hergestellt werden. Das heißt aber auch, dass man sie sich nicht nach persönlichen Vorlieben backen kann. Selbst wenn man als Konditor in eigener Sache sich seinen Onkel Erich vielleicht mit etwas mehr Butter machen würde, kommt er genauso trocken und staubig an wie eh und je, und besagte Tante Adelheid lässt sich nun einmal nur mit Kirsch veredeln, nicht mit dem Marillenlikör, den man beigeben würde, wenn man die Wahl hätte.

Hier geht es nicht darum, seinen Frieden in den Verhältnissen zu suchen beziehungsweise dem Kampf der Obstler und Frisuren gelassen zuzuschauen. Hier muss der Versuchsleiter, der für die Beobachtung des Weihnachtsgeschehens auf Mitprotokollanten angewiesen ist, nach dem Lebensalter seiner Helfer differenzieren: Kinder haben in der Regel mit dem Unabänderlichen noch keine Probleme. In ihrer Perspektive gelten Verwandte als das schlechthin Gegebene, dessen Beschaffenheit sich genauso wenig hinterfragen lässt wie das Quietschen einer Tür oder der Stiel einer Pfanne. Nur Erwachsene stellen die Schicksalhaftigkeit eines Verwandtencharakters infrage. “Könnte Tante Annchen nicht ein Mal etwas Nettes sagen?” – “Könnte Onkel Erich ausnahmsweise mal über etwas anderes reden als sich selbst?”

Kinder aber wissen, dass Onkel Erich nun einmal nur dieses Thema hat und dass Tante Annchen niemals etwas Liebes sagt, denn sonst wäre sie ja nicht das Annchen-Tantchen. Warum lehnen sich Erwachsene gegen die Vorsehung auf? Zur Erklärung sei folgende Hypothese gewagt: weil sich unser Unterhaltungsbedürfnis gegen die Entfaltung des immer Gleichen sträubt. Und damit sind wir auch schon beim Zweiten Hauptsatz der Familiendynamik angelangt: Das Weihnachtsfest markiert den Mittelwert der Selbstverwirklichung in Raum und Zeit (sogenanntes Gesetz der typischen Eskalation). Für diese Herausbildung des Typischen – gleich dem Sich-Öffnen einer Rosenknospe bis zur vorherbestimmten Blüte – haben die Philosophen der Antike den Begriff der Entelechie gefunden.

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