/Obdachlose in Berlin: Am Ende des Tunnels

Obdachlose in Berlin: Am Ende des Tunnels

Sterben ist gar nicht so schlimm. „Davor muss man keine Angst haben“, sagt André Hoek. „Sterben ist nichts anderes als schlafen oder aufs Klo gehen“, und zur Unterhaltung läuft der Film des Lebens. Ja, den gibt es wirklich, Hoek hat das erlebt, er erinnert sich an „wahnsinnig viele Bilder, totale Reizüberflutung“. Nicht die großen Momente wie Einschulung oder Hochzeit. Sondern das pickende Huhn auf dem Bauernhof. Die Schaukel im Garten. Das alte Kinderfahrrad. Gesichter, immer wieder Gesichter. Und irgendwann geht das Licht aus.

André Hoek ist 49 Jahre alt und war drei Mal klinisch tot. Herzstillstand, aus und vorbei. Zuletzt wegen einer Unterkühlung, mit 29 Grad Körpertemperatur ist er ins Krankenhaus eingeliefert worden. Da drüben hat er in seinem Rollstuhl gesessen, „kommen Sie mit, ich zeig’s Ihnen“. Und schon stürmt er hinaus aus der wohligen Wärme des Berliner Hauptbahnhofs. Vorbei am Juwelier, an der Boutique und dem riesigen Weihnachtsbaum, vor dem sich die Touristen zur Selfie-Parade aufreihen. Mit langen Schritten über den Beton des Washingtonplatzes. Weiter über die grün gestrichene Stahlbrücke auf die andere Seite der Spree, wo sich das Publikum im Sommer in Strandkörben vergnügt.

“Ich habe immer so lange getrunken, bis alles leer war”

An jenem Wintertag vor zwei Jahren, als Hoek fast stirbt, ist die Temperatur auf minus zwölf Grad gefallen. Er hat sich am Wodka gewärmt, es waren mal wieder zwei Flaschen oder drei, „ich habe immer so lange getrunken, bis alles leer war“. Er stellt sich unter die Brücke und schaut noch einmal hinüber. Zum Hauptbahnhof, dessen Schatten die Wände seines Wohnzimmers bildeten.

Geschätzt 6000 Obdachlose gibt es in Berlin. Vielleicht sind es auch 10.000, genau weiß das keiner. „Das ist wie mit mit den Tauben“, sagt Hoek. „Jeder sieht sie, aber keiner nimmt sie wahr. Und wenn mal einer fehlt – was soll’s!“ Er war einer von denen, die von den anderen verschämt Obdachlose genannt werden. Sie selbst haben sich anders genannt. Penner. „Das war eine Art Adelsschlag. Wenn ich damals einen Kumpel auf der Straße Penner genannt habe, dann hieß das: Alter, du bist ein Kerl, du hast Eier! Das zeigst du mit jedem Tag, den du auf der Straße überlebst!“

Es gibt ein Foto aus dieser Zeit, es zeigt ihn mit aufgedunsenem Gesicht und ausgeschlagenen Zähnen. Er trägt einen fleckigen Hut und lächelt benebelt ins Irgendwo. Heute ist Hoek von schlaksiger, beinahe asketischer Gestalt. Kapuze und Schirmmütze zieht er tief ins Gesicht – „ganz wichtig! 80 Prozent der Körperwärme verlieren Sie über den Kopf“. Auch das hat ihn das frühere Leben gelehrt. Eineinhalb Jahre war Hoek auf der Straße zu Hause. Erst in Lichtenberg, zwischendurch auf dem Alexanderplatz, die meiste Zeit am Hauptbahnhof. Und er hat geschafft, was kaum einer schafft. Den Weg zurück.

Aufstieg und Absturz bewältigen dieselbe Distanz und könnten doch unterschiedlicher nicht sein. Für den Absturz genügen ein unbedachter Augenblick, ein Schicksalsschlag, ein Zufall. Von einer Minute zur anderen ist nichts mehr, wie es einmal war. Bei der Radfahrerin Kristina Vogel, die nach einem Trainingsunfall seit diesem Sommer mit einer Querschnittlähmung im Rollstuhl sitzt. Beim Rennfahrer Michael Schumacher, von dem die Welt nichts mehr erfährt, seitdem er vor fünf Jahren beim Skifahren mit dem Kopf gegen einen Felsen prallte.

Ein anderes Leben. Noch 2016 war Hoek wohnungslos und alkoholabhängig.Foto: privat

Der Aufstieg ist eine Lebensleistung, ein langer Marsch durch die Mühen der Ebene, bis es mal wieder ein paar Zentimeter nach oben geht. Und noch viel schwerer ist der Weg zurück, wie ihn André Hoek gegangen ist. Der Webdesigner, der in eine Lebenskrise fiel, weil ihn die Frau verließ. Der unter Brücken schlief und täglich bis zur Besinnungslosigkeit soff. Dem sie bei der Stadtmission zum Schluss zeitlich unbegrenzten Zutritt gewährten – „ein letzter Gnadenakt, weil sie mich für todgeweiht hielten“. Jetzt ist er wieder da. Ein kleines Wunder am Hauptbahnhof, das in der Weihnachtszeit besonders hell leuchtet.

Seit Anfang Dezember hat er einen festen Job, „als Sozialarbeiter am Kältebahnhof Lichtenberg“. Kurzes Lachen. „Ach ja, der Sozialarbeiter, das mystische Wesen. Jeder kennt einen, der einen kennt, der mal einen gesehen hat.“

Hoek sagt, er hätte während seiner Obdachlosigkeit ganz gern mal einen Sozialarbeiter getroffen. Einen, der auf die Leute zugeht, der ihnen sagt, wo sie Hilfe finden können. „Heute weiß ich, dass es tausend Angebote gibt. Damals ist nichts davon bei mir angekommen.“

Er will seine Ruhe haben. Kann man nichts machen, sagt Hoek

Er selbst will es anders machen. Zum Beispiel am U-Bahnhof Lichtenberg, kurz vor halb elf am Abend. Olaf, Familienname unbekannt, liegt im Zwischengeschoss. Schwer alkoholisiert und ungeschützt gegen den Luftzug, der vom oberen Bahnsteig kommt. Hoek fragt: „Alles okay?“ Olaf murmelt etwas unverständliches. Er will seine Ruhe haben. Kann man nichts machen, sagt Hoek. „Man darf die Leute nicht bedrängen.“ Olaf hat sein Gesicht gesehen, eine erste Kontaktaufnahme hat auch ihren Wert. Zwei Tage später wird er genug Vertrauen gefasst haben und sich vom Kältebus in eine Notunterkunft bringen lassen.

Ein anderes Mal, nachmittags um drei am Hauptbahnhof. Unter der Brücke im Regierungsviertel. Hoek schaut nach Daniel, dessen zotteliger Bart kaschiert, dass er wahrscheinlich noch keine 30 Jahre alt ist. „Eine Frau hat ihm angeboten, den Winter über in ihrer Laube zu wohnen“, sagt Hoek. „Er sperrt sich noch.“ Oben rattert die S-Bahn, unten pfeift der Wind. Vor seinem Zelt hat Daniel Laubhaufen und Pappkartons aufgeschichtet. Hoek steckt ihm ein paar Münzen zu und ein bisschen Tabak in die Blechdose. Er kennt die Brücke, sie war auch mal sein Zuhause.

Jede Runde, die er hier dreht, ist eine Konfrontation mit der Vergangenheit. Die Schlafplätze unter den Brücken. Die Läden, in denen er das geschnorrte Geld in Zigaretten, Bier und Wodka umgesetzt hat. An jedem Quadratmeter Hauptbahnhof hängen Erinnerungen.

An zu wenig Essen und zu viel Alkohol, an Messerstechereien und Demütigungen, an den dreimal erlebten Tod. Und daran, wie es überhaupt so weit gekommen ist. Vom erfolgreichen Webdesigner mit dem Haus auf Gran Canaria zum Alkoholiker im Rollstuhl. „Das ist eine längere Geschichte“, sagt Hoek. „Haben Sie Zeit? Dann besuchen Sie mich doch mal!“ Im neuen Wohnzimmer, weit weg vom Beton des Washingtonplatzes.

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