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Weihnachtsgeschenke: Oh! Socken!

Strümpfe gehen zu Weihnachten gar nicht. Darin sind sich die
Geschenkratgeber
einig. Socken mögen praktisch sein, doch wird genau deshalb vor ihnen
gewarnt. Das Praktische ist zu feierlichen Anlässen tabu. Die Faustregel lautet: Je heiliger
das Fest, umso wichtiger ist der ideelle Wert der Gabe, der über das bloße Ding und seinen
schnöden Gebrauch hinaus ins Unendliche weist. Die Socke aber verweist nur auf sich selbst.
Vielleicht verweist sie noch auf die Füße der Beschenkten. Für den Heiligabend ist das aber
leider zu viel Realität.

Doch warum den Strümpfen nicht eine Chance geben und sie gerade zu Weihnachten so in die Hand nehmen, wie es der Philosoph Walter Benjamin getan hat?

Benjamin hatte ein besonderes Verhältnis zu Dingen. Besonders zu den einfachen, den alltäglichen, den profanen. Weil man sie so häufig benutzt, aber vielleicht gerade deshalb übersieht.

Bei all diesen Dingen war sich Benjamin sicher, dass viel mehr in ihnen steckt, als man auf den ersten Gebrauchsblick hin annehmen mag. Er vermutete in ihnen gerade wegen ihrer unspektakulären Sichtbarkeit etwas Verborgenes, das sich durch ein fortwährendes Drehen und Wenden so hervorzaubern lässt, dass es Auskunft gibt über die Zusammenhänge, in denen sie das sind, was sie sind – und dabei mehr sind als das, was sie scheinen.

Von seiner besonderen Beziehung zu Strümpfen berichtet Benjamin in seinem vielleicht eigenartigsten und berührendsten Buch.
Berliner Kindheit um neunzehnhundert
heißt es. Darin versammelt sind lauter kurze Texte. Mit ihnen erforscht Benjamin schreibend, wie er als Kind mit neugierigen Sinnen und zartem Sinnieren die Welt berührt, erklärt und in sich aufgenommen hat.

Die alltäglichen Dinge, die um ihn herum sind, spielen dabei eine außerordentlich wichtige Rolle. Das Telefon, die Siegessäule, der Mond, das Nähkästchen, das Pult. Und auch die Strümpfe.

Sie zu entdecken ist für das Kind ein großes Abenteuer, das nie an Spannung verliert, auch wenn es unendlich oft wiederholt werden kann. Im Gegenteil. “Nicht oft genug konnte ich die Probe auf diesen Vorgang machen”, schreibt Benjamin. Die Strümpfe liegen ganz hinten in einem Schrank, den das Kind als ersten ohne fremde Hilfe öffnen kann. Wenn es sich also unbeobachtet einen Weg durchs Dunkel zu ihnen bis in den hintersten Winkel bahnt, findet es sie auf einem kleinen Haufen, gerollt und eingeschlagen zu etwas, das wie eine kleine Tasche wirkt.

Fasst das Kind eine von ihnen, beginnt ein magisches Spiel. Es fährt mit der Hand in die zusammengerollten Strümpfe, um zu schauen, was wohl darin ist. Es fühlt das Wohlige, Weiche und Warme, umfasst es und zieht es langsam heraus.

“Die Enthüllung” nennt Benjamin diese Bewegung. Mit ihr passiert dem Kind bei jeder Wiederholung etwas, wie er sagt: Bestürzendes. Denn am Ende der Enthüllung hat das Kind den Inhalt zwar geborgen. Es hat die Strümpfe in der Hand. Aber die Tasche ist verschwunden.

Halten wir zum Thema Weihnachtsstrumpf an dieser Stelle mal kurz fest: Was immer die Geschenkratgeber Schlechtes über Socken sagen mögen, von diesem magischen Benjamin-Spiel mit der abenteuerlichen Bewegung und der geradezu atemberaubenden Pointe wissen sie offensichtlich nichts. Obwohl es doch so weit verbreitet ist. Obwohl wir es doch alle Tage morgens, abends selbst spielen können, wenn wir nach den Strümpfen greifen, in ihre kleinen Taschen hineinfassen und sie nach außen drehen. Auch wenn wir nicht Benjamin heißen. Auch wenn wir längst das sind, was man erwachsen nennt.

Wir können es vielleicht noch viel besser mit jenen Strümpfen spielen, die noch profaner als profan sind, noch trostloser als trostlos und die deshalb noch viel lieber übersehen werden: mit den Einzelexemplaren, deren zweites Stück in der Waschmaschine, im Wäschekorb, von der Leine auf dem Balkon auf magische Weise auf Nimmerwiedersehen in einer höheren Dimension des Universums verschwunden ist.

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