/Sheku Kanneh-Mason: Der Jüngste der Großen

Sheku Kanneh-Mason: Der Jüngste der Großen

Im Leben eines Musikers gibt es vor jedem Konzert eine Frage zu klären, die für den Erfolg eines Auftritts nicht weniger erheblich ist als die Laune des Publikums, die Eigenheiten des Dirigenten oder der Klang des Instruments. Es ist eine Frage, die sich auch der 19-jährige Sheku Kanneh-Mason an einem winterlichen Freitagabend in Nottingham kurz vor einem ausverkauften Konzert mit dem Sinfonieorchester der BBC stellt: Was ziehe ich heute an?

In schwarzen Jeans und einem roten T-Shirt steht Sheku im Esszimmer seiner Eltern, ein großer 19-jähriger Junge mit einem wolligen Afro und einem weichen Gesicht. Der süße Geruch von Lammcurry hängt in der Luft. Seine Mutter legt ihm einen schwarzen Kleidersack auf den Tisch. Sheku zieht den Reißverschluss herunter: ein hellblaues Hemd, ein dunkelblauer Anzug von Paul Smith. Der Designer kleidet Sheku seit einem halben Jahr ein und hat ein Video auf seine Website gestellt: Smith interviewt darin Sheku wie ein Fan sein Idol.

“Das sind die dreckigen Sachen, Mama!”, ruft Sheku.

“Wirklich?” Seine Mutter hält das Hemd gegen das Licht. “Ich muss deine Schmutzwäsche gebügelt haben!”

Sheku sprintet nach oben und kehrt mit einem weiten blauen Hemd zurück. Vorn ist ein rotes afrikanisches Muster aufgedruckt, ähnlich den bestickten Gewändern in Sierra Leone. Dort wurde seine Mutter geboren, mit vier Jahren zog sie nach Großbritannien und kehrte nie wieder in ihre afrikanische Heimat zurück. Sheku hat sich das Hemd im Internet bestellt. Einer seiner Musiklehrer nennt es “das Bob-Marley-Shirt”, obwohl Bob Marley aus Jamaika kam, aber vielleicht ist das auch egal.

Stellt man sich einen klassischen Musiker vor, dann ist Sheku genau das Gegenteil davon: Er ist nicht weiß, sondern schwarz. Nicht alt, sondern jung. Nicht abgehoben, sondern ein Jeans-und-T‑Shirt-Typ. Und das, obwohl er auf dem Weg ist, ein internationaler Cello-Star zu werden.

Vor zwei Jahren gewann Sheku als erster schwarzer Musiker den Talentwettbewerb der BBC für klassische Musik. Diesen Mai spielte er bei der Hochzeit von Prinz Harry und Meghan Markle, Milliarden Menschen sahen ihm im Fernsehen zu. Sein Debütalbum
Inspiration
führte nicht nur die Klassikcharts an, es schaffte es auch unter die Top 20 der britischen Charts. Renommierte Orchester in aller Welt wollen mit ihm spielen, er ist praktisch jeden Monat in einem anderen Land. Das Konzert in Nottingham liegt ihm jedoch besonders am Herzen.

Hier ist er aufgewachsen und hat seine ersten Cellostunden genommen, hier haben sich sein alter Lehrer mit einer 30-köpfigen Schulklasse, seine Schulfreunde, Nachbarn und der Großteil seiner Familie angemeldet, um ihm zuzusehen. Diese Familie, das sollte man hinzufügen, besteht aus sieben Kindern zwischen neun und 22 Jahren, die alle zwei Instrumente spielen, mindestens. Manchmal treten die Kanneh-Masons als Familienorchester auf, mit einem Klavier, drei Violinen und drei Celli. Läuft man durch die Zimmer ihres zweistöckigen, vollgestellten Backsteinhauses, muss man aufpassen, keine Instrumente, Notenständer oder Trophäen umzustoßen.

Sheku und seine Geschwister sind so etwas wie die Jackson Five der klassischen Musik.

Im Hausflur sucht er sich aus etwa 100 Paar Schuhen seine schwarzen Sneaker heraus. Ein Geräuschteppich aus Kichern, Reden und Rufen begleitet ihn in den dunklen Garten hinaus. Seine jüngeren Schwestern springen um zwei Tanten herum, die für das Konzert aus London und Wales angereist sind. Sein Vater schiebt die Tür eines roten Busses mit neun Sitzen auf, Sheku verstaut sein Cello im Kofferraum und setzt sich in die hinterste Reihe, ganz rechts. Sein Stammplatz.

Von den sieben Kindern ist er das drittälteste. Sheku beschreibt sich als eine Art Sandwichkind der Familie. Sein älterer Bruder sieht ihn eher als “jüngsten der Großen”.

Während der rote, fast 15 Jahre alte Bus durch die beleuchteten Straßen von Nottingham knattert, schaut Sheku schweigend aus dem Fenster. Er ist nicht nervös – das ist er vor Konzerten nie –, er redet einfach nicht gern, wenn Fremde in der Nähe sind. In Interviews sind seine Antworten selten länger als ein paar Sätze. Sanft vorgetragen, münden sie meist in freundlichen Floskeln.

Wie war die
royal wedding?

“Ziemlich cool.”

Hast du mit Pastor Curry gesprochen?

“Ein wunderbarer Typ. Wirklich enthusiastisch!”

Und Meghan und Harry?

“Ein bisschen komisch, sie bei den Hochzeitsvorbereitungen zu treffen, aber sie sind wirklich sehr nette Leute.”

Hat sich danach etwas verändert?

“Es gibt mehr Menschen, die mich jetzt spielen sehen wollen.”

Dann lächelt er so treuherzig, dass man ihn nicht mit weiteren Fragen quälen will und stattdessen lieber anderntags seine Mutter anruft und bei ihr nachrecherchiert, wie das denn wirklich war mit der königlichen Hochzeit. So erfährt man, dass die Zahl von Shekus Instagram-Followern von 3000 auf 130.000 angeschwollen ist, dass die Familie mit Nachrichten, Briefen und Anrufen dermaßen bombardiert wurde, dass die Eltern irgendwann das Telefon herausziehen mussten, und dass Sheku auf der Straße alle paar Meter von Fremden gestoppt wurde, die aufgeregt riefen: “Du bist der Cellist, der auf der
royal wedding
gespielt hat!”

Shekus Weg ist so ungewöhnlich, dass man sich auf die Suche nach einer Erklärung macht. Hatte er einfach mehr Talent als andere? Oder mehr Glück? Was haben seine Geschwister mit seinem Erfolg zu tun? Was seine Eltern?

Man kennt das ja aus der Kulturgeschichte: keine Musikerfamilie ohne ehrgeizige Musikereltern, die ihre Kinder erbarmungslos drillten. Das war bei den Mozarts so, den Beethovens und auch bei den Jacksons.

Wie war es bei den Kanneh-Masons?

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