/Arbeitsmarkt: Fachkräftemangel? Schön wärs!

Arbeitsmarkt: Fachkräftemangel? Schön wärs!

So langsam versteht Florian
Bange* die Welt nicht mehr. Der 33-Jährige gehört eigentlich zu einer angeblich
extrem gefragten Spezies, händeringend gesucht, wie es immer heißt: Er ist
Ingenieur. In Hamburg hat er Verfahrenstechnik studiert, nach elf Semestern das
Diplom mit der Note 1,9 abgeschlossen, danach mehrere Jahre als
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni für seine Promotion geforscht. Es
gibt keinen auffälligen Makel in seinem Lebenslauf. Und trotzdem findet Florian Bange
keinen Job.

Zwei Tage in der Woche nimmt er
sich, um nach Stellenausschreibungen zu schauen und Bewerbungen zu schreiben,
107-mal hat er seine Unterlagen in diesem Jahr schon verschickt, 15-mal wurde
er zu einem Gespräch eingeladen, meistens bei Zeitarbeitsfirmen. Eine
Stelle war nicht dabei. Er hat Freunde seiner Eltern gebeten, den Lebenslauf zu
prüfen, einen Headhunter und eine Personalreferentin. Aber auch der
professionelle Rat half nicht. “Dass die Suche einen Augenblick
dauern würde, war mir ja klar”, sagt er. “Aber dass es so ein großes Problem
wird, hätte ich nicht gedacht.”  

Hilfe, wir finden keine Leute mehr!

Banges Erfahrung erstaunt. Denn
das, was auch er Tag für Tag in den Nachrichten liest, zeichnet ein ganz
anderes Bild vom Arbeitsmarkt. Aus den verschiedensten Branchen heißt es:
Hilfe, wir finden keine Leute mehr! Angeblich mangelt es im großen Stil an
Fachkräften, Menschen also, die eine Berufsausbildung oder sogar ein Studium
abgeschlossen haben.

Die Lieferdienste melden: Ihnen
fehlen die Paketboten, die Deutsche Post versuchte im vergangenen Jahr schon,
Soldaten für ihre Sprinter zu gewinnen. Das Handwerk schlägt Alarm, vor
allem das Baugewerbe
: Es fehlen die Leute, die am Zementmischer und beim Mauern
mit anpacken. Das Zentralkomitee der Katholiken
warnt vor leeren Kanzeln: Es gebe so wenig Geistliche, dass bis 2030 jede
zweite Priesterstelle nicht mehr nachbesetzt werden könnte.

Und seit Jahren schon hört man
immer wieder die Klage, dem Land gingen die Ingenieure aus, stets mit neuen,
einander überbietenden Horrorzahlen über die Dimension des Personalmangels. Das
arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft vermeldete im September,
Monat für Monat seien in Deutschland 129.470 offene Stellen für Ingenieurinnen
und Ingenieure ausgeschrieben, elf Prozent mehr als noch ein Jahr zuvor – und
der höchste Wert seit Beginn der Studie 2011.

“Vor ein paar Jahren hat es vielleicht drei Monate gedauert, bis wir eine Stelle besetzen konnten. Jetzt vergehen schon einmal fünf bis sechs Monate.”

Hauke Hannig, Sprecher von EBM-Papst

Fragt man bei Unternehmen nach, hört man zunächst ähnliche Geschichten. Etwa bei der Firma EBM-Papst, ein typischer Mittelständler aus der schwäbischen Provinz. Das Unternehmen mit Sitz in Mulfingen bei Heilbronn stellt Ventilatoren her, wächst und braucht Leute. Hauke Hannig, der Unternehmenssprecher, hat kürzlich zum Beispiel ein Volontariat in der Unternehmenskommunikation ausgeschrieben. Fünf Bewerbungen bekam er bislang, vor zwei Jahren waren es noch 25. “Das hat mich regelrecht erschrocken.” Daneben sucht die Firma 15 Ingenieure, außerdem 10 IT-Experteninnen. “Vor ein paar Jahren hat es vielleicht drei Monate gedauert, bis wir eine solche Stelle besetzen konnten”, sagt Hannig. “Jetzt vergehen schon einmal fünf bis sechs Monate.” Der Mangel sei also spürbar. Nur: Warum spüren Menschen wie Florian Bange so wenig davon?

Die Erzählung vom vermeintlichen
Fachkräftemangel ist inzwischen so sehr zum Gemeingut geworden, dass es in
Banges Familie schon verwunderte Blicke gab, wenn er von seinen Bemühungen um
einen Job berichtete. Bange hält alle Bewerbungen akribisch in einer Liste fest
– und zeigte sie seinen Verwandten: 107 Versuche. Und nur ein einziges Angebot
– das auch nicht gerade den Eindruck erweckte, dass Bange mit seiner
Qualifikation ein rares Gut wäre. 

Rufbereitschaft rund um die Uhr – für 40.000 Euro

Das Unternehmen, bei dem Bange
sich vorstellte, produziert Foliendrucke. Zwei Gespräche hatte er dort. Man
wolle sich sehr bald melden, hieß es bei der Verabschiedung. Vier Wochen lang
hörte Bange gar nichts mehr, auch auf Nachfrage: keine Reaktion. Dann plötzlich
kam ein Angebot, das Bange am besten bis zum nächsten Tag unterschreiben
sollte. “Ich schätze, denen ist ein anderer Kandidat abgesprungen”, sagt er.
Einen Jahresverdienst von 40.000 Euro bot die Firma – weniger als Bange zuvor
an der Uni verdient hatte. Und deutlich niedriger als das, was gemeinhin als Verdienst
für Ingenieure kursiert; das Stellenportal StepStone bezifferte die
Einstiegsgehälter
für junge Ingenieure auf 47.481 Euro brutto im Jahr.
Dafür waren die Ansprüche hoch. Bange hätte wie ein Mitinhaber praktisch rund
um die Uhr in Rufbereitschaft sein müssen, wenn etwas mit den Anlagen ist. Er
lehnte ab. “Was mir bei der zermürbenden Suche absolut nicht leichtgefallen
ist.”

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