In den letzten Büchern von Wilhelm Genazino hatte die
Vergänglichkeit und Vergeblichkeit immer größeren Raum beansprucht. Die
jeweiligen Varianten seines stromernden, haltlos durch die Gegenwart sich lavierenden
Helden kamen darin kaum noch zur Ruhe, und wo sie sich früher noch durch die
Betrachtung absurder Alltagssituationen gegen allzu viel Missmut immunisieren
konnten, gelang ihnen das zusehends weniger. Das Alter und der Tod hatten sich
in seine Helden eingenistet, obwohl diese meistens das ideale Alter von 50
Jahren nicht groß überschritten.
In seinem letzten, in diesem Frühjahr
erschienenen Roman Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze kann sich der
Ich-Erzähler kaum noch von seinen dunklen Stimmungen befreien; lediglich das
ziellose Spazieren durch die Stadt vermag ihn ein bisschen zu beruhigen.
“Wenn die Menge des Unverstandenen überhandnahm, lief ich schon damals
draußen umher. Wenn ich mich erinnerte, dass das Umherschweifen in der Stadt auf
eine kindliche Eifersucht zurückging, verwandelte ich mich bis heute zurück in
ein Kind, das nichts verstand. Beim Herumlaufen lösten sich die Verknotungen
auf, was ich ebenfalls nicht verstand, aber guthieß. Was sollte ich denn von
einem Leben halten, das sich nicht in die Karten schauen ließ, obwohl ich die
Karten selbst in der Hand hielt und sie fast unablässig anschaute, umdrehte und
mischte.” Auch im Spätwerk gibt es noch jene heitere Melancholie und das
sich im Komischen auflösende Unbehagen an der Kultur, von denen die Bücher
Genazinos immer geprägt waren. Es tritt aber stärker in den Hintergrund. Eine
unheimliche Verzagtheit, eine merkwürdige Beziehungslosigkeit und
Unausweichlichkeit herrschen nun vor.
Wilhelm Genazino wurde am 22. Januar 1943 in der Arbeiterstadt
Mannheim geboren. Seine Herkunft aus kleinbürgerlichem Milieu hat ihn
zeitlebens beschäftigt – das von ihm immer wieder umkreiste Motiv der Scham
rührt daher: Einerseits versuchen seine Männerfiguren, dem Kleinbürgerlichen zu
entfliehen, der Enge und Miefigkeit, dem Spießertum; andererseits sind sie
darin verstrickt, sie verfallen fortwährend in altbekannte Muster, müssen sich
an den Eltern abarbeiten.
“Und ich wollte Clown werden”
Seine Herkunft war es nicht, die Genazino zur
Literatur brachte. Sie war es aber, die sein Schreiben von Anfang an befeuerte
– er nannte das einmal im Gespräch seinen “biografischen Druck”, über den
“merkwürdigen Vater und die fast ebenso merkwürdige Mutter” schreiben und
hinwegkommen zu müssen. So entstand der erste Roman Laslinstraße; bei der Veröffentlichung
1965 war Genazino gerade einmal 22 Jahre alt. “In meiner Jugend war ich ein
Leser von Heinrich Böll, das war einer meiner Sterne am Himmel, und der Böll
veröffentlichte seinerzeit im Verlag Middelhauve. Ich hatte damals keine Ahnung
von Verlagen. Ich las die Bücher von Böll, und da stand drin: ‘Middelhauve,
Köln’. Dann habe ich denen das Manuskript geschickt, und sie haben es genommen.
Das war schon ein Traum. Und sogar Geld dafür zu bekommen, das war das
Allertraumhafteste. So war mein Einstieg.”
Ein rasanter Beginn – dann eine abrupte Verlangsamung: Nach
dem Erstling kam lange nichts. Wilhelm Genazino heiratete, lebte im
Schwarzwald, schrieb für Regionalzeitungen, später dann in Frankfurt für die
Satirezeitschrift pardon – im Kreis
jener hernach berühmt gewordenen Neuen Frankfurter Schule um Robert Gernhardt
und Eckhard Henscheid. Er schien sich mit seiner ersten längeren,
autobiografisch geprägten Geschichte leergeschrieben zu haben. In eine
Depression verfiel er deshalb nicht. “Ich habe auch andere Möglichkeiten gehabt”,
erzählte er einmal. “Ich wollte mal zum Zirkus, stellen Sie sich das vor: Ich
war ein Zirkusfan, und ich wollte Clown werden.”
Diesen Karriereweg hat er
zum Glück nicht eingeschlagen. Zwölf Jahre nach seinem Debüt erschien sein
zweiter Roman, eine Trilogie genauer gesagt, die den Nerv der Zeit traf: Die Abschaffel-Bücher wurden als moderne Angestelltenromane gelesen, breit
rezipiert, sie schienen etwas über eine Schicht zu erzählen, die in der
revolutionär gestimmten 68er-Epoche kaum wahrgenommen wurde. Anschließend
erschienen in regelmäßigen Abständen schmale Romane von Wilhelm Genazino, die
in der literarischen Öffentlichkeit eine “kleine Randanerkennung” erfuhren.
Spätestens mit Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz hatte er zu
seinem ganz eigenen unverkennbaren Ton gefunden – etwas Lakonisches,
Melancholisches ist darin zu hören, etwas Umherschweifendes, etwas
Robert-Walser- und Franz-Hessel-haftes; geradezu meisterlich beherrscht er es,
kleine Beobachtungen in Reflexionen übergehen zu lassen, das Tragische ins
Komische und umgekehrt. Schwebend leicht, wie man es sonst nur aus
französischen Romanen kennt, sind seine Sätze, und seine Titel haben eine ganz
besondere Ästhetik des Tänzerischen und Vergänglichen: Die Obdachlosigkeit der
Fische; Das Licht brennt ein Loch in den Tag; Eine Frau, eine Wohnung, ein
Roman; Das Glück in glücksfernen Zeiten oder Mittelmäßiges Heimweh heißen
sie. Die Bedrängnisse des Sozialen, der Konsumwelt, des Wirtschaftens rücken
den Figuren auf die Pelle, und sie wehren sich mit einer fast naiven Sehnsucht
nach unverformter, medial einmal nicht gefilterter Wahrnehmung.
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