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China: Im Gehen, beim Essen, mitten im Gespräch, nach dem Sex

Welche chinesische Stadt man auch besucht, überall wird dort die Mehrheit der Menschen aufs Smartphone starren.
© Even Fu/Unsplash und Pingfeng Yu/Unsplash

Franka Lu ist eine chinesische Journalistin und Unternehmerin. Sie arbeitet in China und Deutschland. In dieser neuen ZEIT-ONLINE-Serie berichtet sie kritisch über Leben, Kultur und Alltag in China. Um ihr berufliches und privates Umfeld zu schützen, schreibt sie unter Pseudonym.

Viele Seelen befinden sich im Griff der
sozialen Medien, und in China anteilig noch mehr als in Europa. WeChat, die
beliebteste chinesische Social-Media-App, hat eine Milliarde aktive User; die
meisten sind Chinesinnen und Chinesen, und sie nutzen WeChat im Schnitt 66
Minuten am Tag, beruflich wie privat. Andere soziale Medien wie Weibo, Ding
Ding, Kuaishou oder Douyin fressen den Rest der Arbeits- und Freizeit der
meisten Chinesen, selbst wenn sie reisen oder ins Ausland ziehen. Chinas
soziale Medien folgen ihnen und hüllen sie in ihr vertrautes und tief
verschachteltes Universum ein. Ihre platonische Höhle.

Diese Höhle lässt sich nicht leicht
beschreiben. Sie wächst und passt sich an einige unberechenbare Faktoren an: Da
ist die respekteinflößende und allgegenwärtige Regierungszensur, die schwindende
Aufmerksamkeitsspanne der chinesischen Userinnen und User, da sind die
Konflikte zwischen vormodernen und modernen Werten, die Dominanz des Konsums
und der aufflammende Wunsch nach Pluralismus, da sind der unvermeidliche
Einfluss der Globalisierung und die Notwendigkeit, ihn zu begrenzen, und der
mörderische Konkurrenzkampf auf dem Binnenmarkt.

Chinas König der sozialen Medien, WeChat, ist eine Messenger-Komplettlösung, die inzwischen auch Spiele,
Onlineshopping und Finanzdienstleistungen anbietet. Fast alles, was die User
brauchen, können sie sich vom Smartphone aus holen, ohne je die App zu
schließen. Sie ist eine Mischung aus Whatsapp, Facebook, Instagram, Skype,
Onlinebanking, Amazon und vielem mehr. Dazu bindet WeChat noch zehn Millionen
Apps von Drittanbietern ein. Die Chinesen tauschen heute nicht mehr ihre
Telefonnummern aus, sondern ihre WeChat-IDs. Wenn Sie in China keine WeChat-ID
besitzen, gibt es Sie nicht – die Kontaktaufnahme mit Ihnen wäre so
umständlich, dass man Sie schnell vergisst.

Die Sucht hat viele Ursachen. Die wichtigste: Angst

Welche chinesische Stadt man auch besucht,
überall wird dort die Mehrheit der Menschen aufs Smartphone starren: im
Gehen, beim Arbeiten, beim Essen, beim Ausgehen und vielleicht sogar nach dem
Sex. Ausländer sind dann bisweilen beleidigt, wenn die chinesischen Bekannten
mitten im Gespräch ihre Handys zücken, sogar mitten in wichtigen Besprechungen.

Chinas Social-Media-Sucht hat viele Ursachen.
Die wichtigste ist die Angst. Chinesinnen und Chinesen aus den Fünfzigerjahrgängen
haben die Hungersnöte der frühen Sechziger erlebt, die brutale und zügellose
Gewalt von Maos Revolution von den Fünfzigern bis in die späten Siebziger,
Armut, Lebensmittel- und Energieknappheit von Ende der Fünfziger bis in die
frühen Achtziger. Sie sahen die beschleunigten Wirtschaftsreformen und die
Öffnung ihres Landes für den Weltmarkt, die schwindelerregende Anhäufung von
Reichtümern seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Und sie haben erlebt, wie China
zum Land mit dem zweitgrößten Bruttoinlandsprodukt der Welt heranwuchs, ohne ein
verlässliches Sozialsystem oder eine verlässliche Justiz.

Diese drastische und anhaltende Veränderung
innerhalb einer einzigen Lebensspanne muss zwangsläufig zu Ängsten führen, und
sie durchdringen die gesamte Gesellschaft: Wer überleben und sich anpassen
will, muss sich mit Freunden und Familie ständig auf den neusten Stand bringen.
Wie findet man einen vertrauenswürdigen Arzt? Wie bekommt man sein Kind auf
eine gute Schule? Welche Nahrungsmittel sind zurzeit verseucht? Welche neuen
Pläne der Bezirksverwaltung können den Geschäften gerade nutzen oder schaden?
An welcher Bushaltestelle sind während der letzten Überschwemmung Passanten
durch Stromschläge ums Leben gekommen? Wie kann man Lehrer bestechen und seinem
Kind in der Schule einen höheren Status verschaffen? Wie kann man die
plötzlichen Vorschriften und brutalen Übergriffe einer Stadtverwaltung umgehen,
die in der überbevölkerten Stadt die unteren Bevölkerungsschichten loswerden
will?

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