/Sexualität und Trauma: Wie lerne ich, die Erinnerung an sexuelle Gewalt zu bewältigen?

Sexualität und Trauma: Wie lerne ich, die Erinnerung an sexuelle Gewalt zu bewältigen?

In unserer Kolumne “Schlafzimmerblick
beantwortet die Sexualtherapeutin Angelika Eck regelmäßig Ihre Fragen
zu Liebe, Sex und Partnerschaft. Denn über nichts wird häufiger
geschwiegen. Das wollen wir ändern. 

Annika, 21 Jahre:
Ich habe beim Sex mit Männern immer wieder schlechte
Erfahrungen gemacht, wurde auch vergewaltigt. Mit meinem jetzigen Freund fühle
ich mich insgesamt sehr wohl. Ich fürchte mich aber trotzdem vor dem Sex und
fühle mich bei erotischen Berührungen unwohl, obwohl ich ihm voll und ganz
vertraue. Allein mit ihm nackt zu sein, ist nicht einfach für mich. Manchmal
wird mein ganzer Körper starr und ich empfinde gar nichts mehr. Wenn ich mich
dann doch mal fallen lassen kann, fange ich unweigerlich an zu weinen. Wie kann
ich diese Angst besiegen und damit umgehen?

© Susanne Lencinas

Ich danke Ihnen sehr für Ihre Zuschrift, denn der Umgang mit
den Folgen sexueller Gewalt in der späteren Sexualität ist ein Thema, das viele
Frauen und Männer betrifft. Darüber offen zu sprechen, trägt dazu bei, dass
sich Menschen damit weniger allein fühlen.

Die Reaktionen Ihres Körpers und Ihrer Psyche bei Nacktheit
und sinnlicher Berührung sind sehr nachvollziehbar. Bedrohliche
Erfahrungen, die uns verletzen, demütigen und gegen die wir uns nicht zur Wehr
setzen können, bleiben in unserem Gedächtnis gespeichert. Manchmal genügt nur
ein einziger Reiz, um nicht nur unsere Erinnerungen an die schlimme Situation
in Form von Bildern zu wecken, sondern auch automatische Gefühls- und
Körperreaktionen hervorzurufen: zum Beispiel Ohnmacht, Angst, Ekel oder das
Gefühl, “einzufrieren”. Manche Menschen spüren bestimmte Körperregionen nicht mehr. Andere beschreiben, dass sie bei bestimmten Reizen dissoziieren, das bedeutet, ihre Wahrnehmung spaltet sich vollständig von der
Situation ab. Wichtig ist, zu verstehen, dass diese automatischen Abläufe
Schutzreaktionen zum Überleben in der ursprünglichen Situation waren. Als
solche brauchen sie Verständnis und Würdigung. Sie können nicht mit
Willenskraft übergangen oder überwunden werden. Das merken Sie
selbst.

Zugleich kontrollieren diese Schutzreaktionen Sie in einer
Situation, in der Sie gerne freier wären. Verlangen Sie nicht von sich, diese
Schwierigkeit allein zu lösen. Es gibt dafür professionelle Unterstützung.
Falls Sie für eine Traumatherapie offen sind, würde ich Ihnen empfehlen, bei
der Wahl der Therapeutin darauf zu achten, dass diese mit den körperlichen
Aspekten beziehungsweise körperbasiertem Arbeiten vertraut ist. Ich höre häufiger von
Frauen, dass sie auch nach erfolgter Therapie an der Schwelle der Sexualität
nicht weiterkommen, dass sexuelle Berührungen oder bestimmte Sinneseindrücke im
Zusammenhang mit dem Berühren des eigenen Körpers weiterhin automatisch Angst
und Abwehrreaktionen triggern. Ebenso andere visuelle Reize, die Vorstellung
vom eigenen Körper, der Penis des Partners oder auch Gerüche. Das kann sehr
frustrierend sein, auch weil die Sexualität für die meisten Menschen in unserer
Kultur einen zentralen Bestandteil der Zweierbeziehung darstellt. Es ist nicht
einfach, eine Partnerschaft zu führen, die den Körper ausklammert. Die
Sehnsucht nach einem Sexualleben frei von diesen Störungen ist oft groß.

Mein erster Rat an Sie ist: Weihen Sie Ihren Partner ein und
gewinnen Sie ihn als Komplizen. Er muss wissen, was bei Ihnen läuft, damit er
die Chance hat, Ihre Grenzen zu respektieren und zugleich die Zone der nächsten
Entwicklung achtsam mit Ihnen zu beschreiten. Falls Sie eine Therapie zum
jetzigen Zeitpunkt nicht wünschen oder wenn Sie bereits in Behandlung sind,
aber körperlich nicht weiterkommen, ist zu überlegen, was Sie selbst
ausprobieren können. Bitte wenden Sie keinen meiner Vorschläge blindlings an,
sondern prüfen Sie ganz genau, was für Sie passt! Vom Prinzip her geht es
darum, dass Sie die Schutz- und Angstreaktionen Ihres Organismus ganz langsam
verändern lernen oder behutsam prüfen, wie weit dies möglich ist.

Die Wahrscheinlichkeit für eine Schutzreaktion ist
vielleicht höher, wenn Sie passiv Berührung empfangen oder still in Ihren
Körper hineinspüren. Falls dem so ist, können Sie eine Antiohnmachtsstrategie
anwenden, die im Wesentlichen in eigener aktiver Bewegung besteht: Sie
bestimmen die Grenzen, Sie bestimmen die Richtung, Sie bestimmen Kraft, Nähe
und Abstand. Das ist wichtig! Viele Sportarten, Tanz, Gymnastik, Yoga und in
besonderer Weise die Feldenkrais-Methode bieten die Möglichkeit, den Körper in
aktiver Eigenbewegung bewusst wahrzunehmen. Ehe Sie die Paarsexualität ins Auge fassen, wäre wichtig, dass Sie selbst die Erste sind, die Ihren Körper
ansieht und berührt, auch sexuell berührt. Sie können am besten spüren, was Ihr
Körper toleriert, mag, verlangt. Er ist Ihr Hoheitsgebiet. Sie können in Ruhe
spüren, wo Berührungen angenehm sind, wo Sie stocken, wann Sie aufhören zu
atmen oder sich verkrampfen. Und dann halten Sie inne und erinnern sich daran,
dass Sie frei sind, atmen dürfen, sich vielleicht räkeln, kraftvoll auftreten,
an angenehmere Orte zurückkehren, spüren, dass Sie lebendig und unversehrt
sind.

Wenn Sie lernen, sich wohlwollend zu berühren und Ihr Körper
sich darauf einlässt, entstehen mit der Zeit andere neuronale Verbindungen, die
einen positiven Körperbezug und Bewegungsmöglichkeiten aus dem Erstarren hinaus
festigen. Tränen sind beim Sex vielleicht irritierend, aber begrüßenswert: Sie
bringen etwas in Fluss, Sie bringen Sie mit sich selbst in Kontakt, Sie spüren
dabei Ihre Traurigkeit, Spannung, die sich löst, oder verschiedene andere
Emotionen. Interessant ist, was nach dem Weinen angenehm ist, wie es weitergeht.

In der Paarerotik dürfen Sie sich vom klassischen Ablauf mit
Koitus erst einmal experimentell entfernen und den Spielraum ganz weit anlegen.
Mit Ihrem Partner könnten Sie beispielsweise tanzen – und Sie
führen. Hier sollten Sie genau aufpassen, welche Aktivitäten noch im Okay-Bereich
sind und welche Ihnen gar nicht passen. Die gesamte erotische Situation lässt
sich hilfreich gestalten: Wie komfortabel sind Sie mit Nacktheit? Wenn Sie den
Schutz von Kleidung brauchen, bleiben Sie bekleidet. Welche Gerüche sind
hilfreich, welche sind in Ordnung, welche triggern Unangenehmes? Welche Musik
erinnert Sie an das sichere Hier und Jetzt? Worauf können Sie Ihren Blick, Ihre
Ohren, Ihre Berührungen richten, das Sie darüber versichert, dass Sie in einer
kontrollierbaren, sinnlich angenehmen Situation sind? Wie kann Ihr Partner Sie
darin konkret unterstützen? Wie ist es, wenn Sie ihn aktiv berühren? Wie geht
es Ihnen mit verschiedenen Körperhaltungen und -stellungen mit ihm im Kontakt?

Stehen Sie, wenn das Sitzen oder Liegen sich zu riskant anfühlt. Es kann auch
sehr interessant sein, sich nur beinahe zu berühren. Kennen Sie dieses Spiel?
Sie stehen sich gegenüber und bewegen die Handflächen aufeinander zu bis sie
sich fast berühren, halten dann aber inne, als sei eine unsichtbare Glasscheibe
oder ein kleiner magnetischer Widerstand zwischen Ihnen. Dann vollführen Sie
Bewegungen mit den Händen, den Armen und dem Körper entlang dieser imaginären
Glasscheibe und Ihr Partner folgt spiegelbildlich, lässt sich von Ihnen führen.
Wichtig ist, dass Ihr Partner Bescheid weiß und signalisiert, inwiefern er
bereit ist, mit Ihnen eine behutsame Allianz auf dem Weg einzugehen, so dass
Sie sich auf ihn verlassen können, auf seine Berechenbarkeit, seine Achtsamkeit
und seine Beherztheit. Ich wünsche Ihnen, dass Sie kleine Schritte ausprobieren
können, und wenn die kleinen Schritte zu groß sind, dass Sie sich Hilfe holen
und erst recht verständnis- und liebevoll mit sich selbst umgehen werden.

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