/“Cape 10” in Wien: Kap der guten Hoffnung

“Cape 10” in Wien: Kap der guten Hoffnung

Das klingt schon alles ein wenig verwegen. Als hätte der Arzt Siegfried Meryn, der da wie elektrisiert in seiner Privatordination im 9. Bezirk von seiner Vision eines 13,5 Millionen Euro schweren Sozialprojekts schwärmt, den Boden unter den Füßen verloren. Als hätte er sich in einer Utopie verrannt.

Ein bisschen kokettiert Siegfried Meryn offenbar mit diesem ersten Eindruck, wenn er so selbstbewusst von seinem Vorhaben erzählt. Davon, dass er in gut einem Jahr gemeinsam mit zahlreichen österreichischen Prominenten ein Sozial- und Gesundheitszentrum aus dem Boden gestampft haben will – vorbei am behäbigen Staatsapparat, ohne Subventionen, ohne Steuergeld. Am Montag hat Meryn seine Vision der breiten Öffentlichkeit präsentiert, am Mittwochabend findet im Akademietheater eine Benefizveranstaltung zugunsten des Projektes statt, das aus einer ersten Idee des Internisten Meryn im Jahr 2014 entstanden ist, ab 2019 errichtet werden und Anfang 2021 fertiggestellt sein soll.

Cape-10-Initiator: Der Internist Siegfried Meryn
© Coop Himmelblau

Der bekannte TV-Mediziner Meryn, der Tausende Zuschauer seiner Gesundheitssendung normalerweise mit Ernährungstipps bei grippalen Infekten oder Darmbeschwerden versorgt, sitzt an diesem Tag auf einem Ledersofa vor seinem Laptop. Es ist dunkel in der Privatordination in der Pelikangasse. Nur das weiße Licht des Computers schneidet das rastlose Gesicht des Arztes aus. In regelmäßigen Abständen laufen Bilder über den Schirm. “Das ist das Grundstück”, sagt Meryn und zeigt auf ein Foto, das eine unbebaute, mit grauem Schutt bedeckte Fläche zeigt. Dort im 10. Bezirk, im neu gegründeten Sonnwendviertel, soll das “außergewöhnliche Zentrum” mit dem heroischen Namen Cape 10 entstehen. Ein modernes Glasgebäude schiebt sich nach dem nächsten Mausklick in 3-D-Format über das Areal in der Alfred-Adler-Straße.

Das Sozial- und Gesundheitszentrum, das da in just jenem Bezirk mit dem höchsten Migrantenanteil und geringsten Bildungsniveau in Rekordzeit hochgezogen werden soll, wird schon lange gebraucht. Diese “Health Mall” soll gleich mehrere chronische Mängel mit einem Schlag beheben: Eine niederschwellige Ambulanz soll etwa Menschen ohne Krankenversicherung versorgen, Frauen ohne Obdach sollen eine Notunterkunft vorfinden sowie Kinder und Jugendliche ein eigenes Gesundheitsdepartment bekommen.

Die ärztliche Versorgung ist in Favoriten besonders schlecht, es fehlen vor allem Kinderärzte. “Es gibt gerade einmal fünf”, rechnet Siegfried Meryn vor, streckt seine Finger von seiner Hand, “wie können wir da noch länger wegschauen?”

Cape 10, “Wiens erstes Symbol für soziale Verantwortung”, wie Meryn das Zentrum auch beschreibt, soll konsequent hinsehen. Und eigentlich nichts Außergewöhnliches leisten, sondern das, was eine funktionierende Gesellschaft laut Ökonomen leisten sollte, wenn sie wohlhabend bleiben will: benachteiligte Menschen auffangen, sie in die Gesellschaft reintegrieren. Mehr als 1,2 Millionen Österreicher sind aktuell akut armuts- oder ausgrenzungsgefährdet, darunter rund 400.000 Kinder. Bei dreimal schlechterem Gesundheitszustand sind von Armut betroffene Kinder doppelt so häufig krank wie solche aus wohlhabenden Verhältnissen. Sie haben eine bis zu zehn Jahre kürzere Lebenserwartung. Sie alle sollen in diesem “Kap der guten Hoffnung” neben medizinischer auch soziale Versorgung finden.

Das Außergewöhnliche liegt zugleich in einem anderen Aspekt des Vorhabens und mag ein bisschen an amerikanische Initiativen erinnern: Es ist eine namhafte Zivilgesellschaft, die hinter dem visionären Projekt steckt und Cape 10 zum Leben erwecken will, ohne Väterchen Staat.

Die Schauspieler Harald Krassnitzer und Nicholas Ofczarek etwa, der Regisseur David Schalko, der Autor Thomas Brezina, Burgtheaterdirektorin Karin Bergmann, Konzerthauschef Matthias Naske, sie alle stehen hinter und vor dem Privatprojekt, um sich ehrenamtlich mit Spenden, künstlerischen Projekten und Ideen einzubringen.

“Der Sozialstaat ist wichtig, aber wir haben beobachtet, dass sich nicht viel bewegt hat in den letzten Jahren”, sagt Siegfried Meryn. Dem 64-jährigen Arzt, der drei Jahre in New York lebte und die vielen Privatinitiativen auf dem maroden US-amerikanischen Gesundheitssektor vor Ort kennenlernte, war nach schnellem Handeln zumute. Vor allem wenn es um Maßnahmen gegen Ausgrenzung geht. “Da ist Österreich kurzsichtig und einseitig”, sagt Meryn.

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