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Literaturnobelpreis: Die Seiteneinsteigerin

Dass sich ihr Leben verändern wird, weiß Rebecka Kärde an dem Tag,
als sie aus Stockholm einen Anruf bekommt. Am Telefon ist Anders Olsson,
der Interimsvorsitzende der berühmten, inzwischen auch berüchtigten Schwedischen Akademie, die für die Vergabe des Literaturnobelpreises
zuständig ist. “Können Sie sich vorstellen, den nächsten
Literaturnobelpreisträger mit auszuwählen?”, fragt Olsson ohne
Umschweife. Kärde ist verblüfft, überrascht, sich aber auch im Klaren
darüber, dass dieses Angebot nicht von ungefähr kommt. Im Frühjahr erst
hatte sie einen mit 100.000 Kronen dotierten Kritikerpreis von der
Akademie bekommen, seit sechs Jahren schreibt sie schon regelmäßig
Literaturkritiken für Schwedens größte Tageszeitung Dagens Nyheter.

“Dass die mich kennen und schätzen, das wusste ich.” Sie bittet sich
einen Tag Bedenkzeit aus. Dann sagt sie zu. Seitdem ist sie die
Neuköllner Studentin, die den Literaturnobelpreis verleiht.

Denn die gebürtige Schwedin ist gerade einmal 27 Jahre alt, lebt seit
vier Jahren in Berlin, wo sie an der Humboldt-Universität Klassische
Philologie studiert, und führt tatsächlich ein typisches Berliner
Studentinnenleben zwischen Uni, Lesen und ein bisschen Ausgehen. Sie
wohnt mit ihrem Freund in der Nogatstraße, ist begeistert von dem
Stadtviertel, das sie noch an der Grenze der Gentrifizierung empfindet,
und Berlin überhaupt: Schon 2012 war sie für ein Jahr hier, um dann noch
einmal nach Stockholm für ihren Bachelorabschluss zurückzukehren.

Warum gerade sie ausgewählt worden ist, was ihre Kritiken so besonders
macht, darüber kann sie an diesem Dienstagabend nur spekulieren, als sie
im Amalia sitzt, einem Café am Körnerpark. Klar, sie hat jenen Preis
bekommen, der einmal im Jahr an zwei schwedische Kritiker und
Kritikerinnen verliehen wird, “für bedeutende Einsätze für
schwedischsprachige Kritik”, wie es heißt. Vergeben aber wird dieser
ohne weitere Begründung und ohne Zeremonie.

Das Vertrauen wiederherstellen

Man spürt gleich, dass Kärde Auszeichnungen wie diese nicht
überbewerten will, auch nicht die Tatsache, dass ihre erste Juryarbeit
als Kritikerin sogleich der bedeutendsten Literaturauszeichnung der Welt
gilt. Lieber beschreibt sie sich als gewissenhafte Kritikerin,
“kompromisslos und präzise”. Sie habe nur den Text im Blick, “close
reading
als Ideal”, wie sie sagt – aber auch ihre eigene Subjektivität
“als weiße Frau aus einem westlichen Land”. Vielleicht spüre man das in
ihren Kritiken, hofft sie, und auch, dass es der Akademie nicht nur um
mehr Frauen und mehr Jugendlichkeit in der neuen Jury gegangen sei.

Kärde ist tags zuvor erst von einem Wochenende in Stockholm
zurückgekehrt. Dort war sie bei einer kurzfristig anberaumten ersten
Zusammenkunft in der Schwedischen Akademie und wurde als Neuling in
Kenntnis über ihre kommende Aufgabe gesetzt. Nach
den skandalösen Vorgängen im Umfeld der Akademie, den Streitereien und
Rücktritten innerhalb des eigentlich aus 18 Mitgliedern bestehenden
Gremiums
und dem Verzicht auf die Vergabe des Literaturnobelpreises
in diesem Jahr, hat man in Stockholm beschlossen, zwei Jahre lang nach
einem anderen Modell den Literaturnobelpreis zu verleihen.

Zu den fünf Mitgliedern des angestammten Gremiums – Horace Engdahl, Per Wästberg, Anders Olsson, Jesper Svenbro und Kristina Lugn – stoßen fünf externe schwedische Literaturexperten und -expertinnen.
Diese zehn Personen bilden nun das interimistische
Literaturnobelpreiskomitee, wie es in Schweden in Abgrenzung zur
Akademie genannt wird. Seine Aufgabe: nicht nur Literaturnobelpreise
vergeben, sondern auch verloren gegangenes Vertrauen in die Arbeit der
Schwedischen Akademie und der Nobelpreisstiftung wiederherstellen.

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