/Annegret Kramp-Karrenbauer: Angela Merkels Erbe ist multikulturell

Annegret Kramp-Karrenbauer: Angela Merkels Erbe ist multikulturell

Lamya Kaddor ist eine Pionierin der islamischen Religionspädagogik in Deutschland. Die Islamwissenschaftlerin und Autorin ist erste Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes (LIB), der für eine dogmenfreie, zeitgemäße Auslegung religiöser Schriften wie des Korans und für Geschlechtergerechtigkeit wirbt. Für ihre Bemühungen wurde Kaddor mehrfach ausgezeichnet, 2011 erhielt sie von der Bundesregierung die Integrationsmedaille.

Das Ende der Ära Angela Merkel ist beschlossen und ein
Neuanfang bietet immer Chancen. Doch der Wunsch nach Veränderung dürfte in Deutschland
weit weniger ausgeprägt sein, als man gemeinhin annimmt. Die Merkel-muss-weg-Fraktion ist zwar fürchterlich laut, und viele lassen sich davon
in die Irre führen, aber ihre wahre Stärke ist deutlich geringer als ihre
gefühlte. Das zeigt nicht allein das Ergebnis des CDU-Bundesparteitags, auf dem
sich Annegret Kramp-Karrenbauer alias AKK als neue Parteichefin
durchsetzen konnte.

Auch wenn in den
Merkel-Jahren immer wieder reklamiert wurde, dass die Kanzlerin das Land durch
ihren Führungsstil gelähmt habe, muss man doch konstatieren: Es ist nicht zu
wenig geredet worden. Niemals in der Geschichte wurde gesellschaftlich so viel
debattiert wie in Merkels Amtszeit, auch dank des Internets. Es wird in der
Zeit nach Merkel also nicht darum gehen, mehr zu diskutieren, sondern darum,
wie, über was und mit wem.

Klar geworden sein
sollte inzwischen, dass man nicht mit jedem reden kann. Wer sich als besorgter
Bürger kostümiert und Neonazis auf die Straße folgt, “Ausländer raus”
oder Varianten der Parole brüllt, lässt sich durch Reden allein nicht mehr
erreichen. Solange jemand sein geschlossenes Weltbild nicht durchbricht, ist ein
Anspruch auf Teilhabe am öffentlichen Diskurs verwirkt.

Weniger das Trennende betonen, stärker das Einende

Man kann ebensowenig über alles diskutieren. Bestimmte Gegebenheiten sind einfach Fakt, der
Streit ausgetragen: Deutschland ist Einwanderungsland (etwa jeder Fünfte hat
einen Migrationshintergrund), der Islam gehört als zweitgrößte Religion zu
Deutschland, Konfessionslose und Atheisten mit mehr als einem Drittel bilden
die größte Gruppe im religiös-weltanschaulichen Spektrum. Deutschland ist ein
multiethnisches, multikulturelles und multireligiöses Land. Da kommen wir
seriös nicht mehr zurück. Diese Gegebenheiten lassen sich jenseits
rechtsnationalistischer Positionen nicht mehr erschüttern. Die Realität der
Vielfalt wird alsbald Teil der politischen Kultur sein. 

Vor diesem
Hintergrund wäre es sinnvoll, wenn die Erben Merkels in Zukunft weniger über Partikularinteressen
von Muslimen, Ostdeutschen, Geflüchteten, Wutbürgern oder AfD-Wählern sprechen
würden. Es gibt ohnehin nichts, was über diese Einzelgruppen noch nicht gesagt
wurde. Die Chance der Politik, ein Land von Gemeinsamkeiten und Zusammenhalt
als Teil Europas zu festigen, liegt vielmehr darin, primär Probleme anzupacken,
die alle gleichsam betreffen.

Politik sollte
sich den Themen mehr über Inhalte nähern: Verkehrspolitik geht alle gleichsam
an. Dem Stau ist es egal, ob ein Auto von jemandem mit oder ohne
Migrationshintergrund gesteuert wird. Ein Patient wird nicht danach fragen,
welche Pflegekraft ihn zur Toilette geleitet, solange es überhaupt eine tut.
Digitalisierung betrifft die gläubige Frau mit Kopftuch in Oberschleißheim und
die Agnostikerin in Warnemünde gleichsam. Verbindende Politik ist es, die die
künftigen Regierungen nach Merkel verfolgen sollten. Weniger das Trennende
betonen, stärker das Einende. Das Trennende ist den meisten bestens vertraut.
Wir reden seit Jahrzehnten davon.

Es braucht mehr Vielfalt in der Politik

Erreichen ließe
sich das einfacher, wenn die Einzelgruppen künftig paritätisch im
Politikbetrieb vertreten wären. Das heißt, es braucht nach wie vor mehr Frauen
in der Politik, mehr Menschen mit Migrationshintergrund, mehr Juden, mehr
Atheisten, mehr Ostdeutsche, mehr Menschen mit Behinderung. Denn wer
partizipiert, bringt seine spezifischen Sichtweisen automatisch mit ein.

Mit AKK sind die
Aussichten dafür weniger trüb, als sie es mit Friedrich Merz oder Jens Spahn
als neuem CDU-Chef geworden wären. Vor allem Friedrich Merz ist ein Mann der
Vergangenheit. Wie sehr die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen an ihm
vorbeigegangen sind, zeigte er auf der Regionalkonferenz in Nordrhein-Westfalen,
wo ihm zum Thema Religionsfreiheit nichts Besseres einfiel, als die
vermeintliche Indoktrination in Koranschulen zu betonen. Die Debatte darüber
war exakt zu dem Zeitpunkt geführt worden, als Merz vor zehn Jahren die Brocken
hinwarf, mit dem Ergebnis der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts
in staatlichen Schulen.

Wer bei solchen
Themen derart im Gestern steckt, kann ein Land nicht voranbringen. Deutschland
braucht Politiker, die ihrer Zeit voraus sind. Sie sollten über die neuen
Herausforderungen sprechen, statt alte Geschichten aufzuwärmen. Merkel hat das
vergleichsweise gut gemacht und damit ihre Partei wie auch das Land ein Stück
weit modernisiert. Sie besiegelte beispielsweise den Atomausstieg oder
widersprach den völkischen Anwandlungen eines Thilo Sarrazin. Aller
Voraussicht nach wird sich AKK an den Grundzügen dieser Politik orientieren.
Auf sie warten jedoch große Aufgaben.

Weniger auf Abgrenzung setzen

Sie muss Kreativität
aufbringen, um das konservative Profil ihrer Partei zu schärfen und nicht auf
das antiquierte Hauptrezept zu setzen – sich von Minderheiten abgrenzen. Auch
bei ihrem Steckenpferd der Sicherheitspolitik sollte sie weniger auf Abgrenzung setzen, denn Deutsche werden von Rechtsextremisten ebenso bedroht
wie Nichtdeutsche und Muslime von gewaltbereiten Islamisten ebenso wie
Nichtmuslime. Wäre AKK Erfolg beschieden, könnte sie ihre Partei zukunftsfest
machen.

Mit Annegret Kramp-Karrenbauer haben sich die Christdemokraten vorerst für den vernünftigen
Weg entschieden. Ob die Wahlentscheidung auch das deutsche Parteiensystem
rettet, wird spannend zu beobachten sein. Friedrich Merz und Jens Spahn hätten
es der SPD vielleicht anfangs leichter gemacht, zum Erfolg zurückzukehren. Mit
AKK sind die Sozialdemokraten nun rascher gefordert, sich dem Unvermeidlichen
zu stellen, und sich politisch neu zu erfinden. Die AfD frohlockt bereits, mit
AKK wird sie der #Merkelmussweg-Fraktion ein neues Feindbild geben. Der
Nachfolgehashtag wird schon gesucht.

Aber muss das
deutsche Parteiensystem überhaupt gerettet werden? Vielfältige Gesellschaften
produzieren vielfältige Interessen. Sind Volksparteien da überhaupt noch die
richtige Antwort? Alles auf eine Karte setzen sollte man in dieser Frage nicht.
Bis das geklärt ist, wird es nach Merkel vor allem auf eines ankommen: mit
gemeinsamen Kräften den Rechtsruck zu verhindern, der andere Staaten um
Deutschland herum in eine ungewisse Zukunft geschickt hat.

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