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Energiemarkt: In der Stromfalle

Eigentlich ist Martin Baier niemand, der sich leicht in die Irre führen lässt. Der 70-Jährige bewohnt ein gepflegtes Reihenhaus in Essen, in liebevoll bepflanzten Terrarien hält er ein paar Schildkröten. Verträge und Briefwechsel heftet der frühere Prokurist einer Zeitarbeitsfirma fein säuberlich in Ordnern ab, die er in seinem Arbeitszimmer ins Regal stellt. Und doch ist es einem Unternehmen im November gelungen, das Leben von Martin Baier durcheinanderzubringen – indem es ihm gleich zwei Stromverträge und einen Gasvertrag untergejubelt hat, die er eigentlich nicht haben wollte. Martin Baier sagt: “Das war illegal!”

Untergeschobene Stromverträge sind ein wachsendes Problem. Darauf deutet eine Studie des Projekts “Marktwächter Energie” hin, an der sich Verbraucherzentralen aus acht Bundesländern beteiligt haben. Sie haben untersucht, wie oft Menschen nach Anrufen oder Hausbesuchen ihren Energieversorger gewechselt haben – ohne dass sie dem zugestimmt hätten. “Die Anbieter oder Vermittler gehen mitunter sehr dreist vor”, sagt Barbara Saerbeck, Referentin im Projekt “Marktwächter Energie” beim Verbraucherzentrale Bundesverband. “Manche geben am Telefon nicht mal zu erkennen, in wessen Auftrag sie anrufen.”

So hat das auch Baier erlebt. Eines Morgens habe das Telefon geklingelt, erzählt er. Die Anruferin habe ihn aufgefordert, zum Abgleich mit ihren Unterlagen die Nummern seiner Stromzähler zu nennen, und ihn dann gewarnt: Der Strom werde bald um 19 Prozent teurer, aber sie könne ihm ein besseres Angebot machen. Drei Tage später fand er drei Auftragsbestätigungen der Firma Mivolta aus Gräfelfing im Briefkasten – einen Liefervertrag für seinen Gasanschluss und zwei Verträge für die Belieferung mit Strom, und zwar für seinen privaten Anschluss und den Anschluss im Treppenhaus seines Reihenhauses. “Den Namen Mivolta hatte ich vorher nie gehört”, sagt Baier, “ich war überzeugt, dass die Dame im Auftrag meines aktuellen Versorgers angerufen hat.”

Ein teurer Irrtum, wie eine Tabelle zeigt, die Baier am Computer erstellt hat: Jeder der drei neuen Verträge war zwischen 14 und 33 Prozent teurer als die Tarife seiner bisherigen Versorger, aufs Jahr gerechnet mehr als 500 Euro. Vertragsbindung: 24 Monate, mit der Möglichkeit, dass die Preise nach zwölf Monaten sogar noch einmal steigen. Baier ist sauer. “Die hätten nicht einmal anrufen dürfen, das war eine unzulässige Kaltakquise”, sagt er.

Die sogenannte Kaltakquise sollte eigentlich der Vergangenheit angehören: Das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb untersagt es Unternehmen, jemanden zu Werbezwecken anzurufen, wenn der vorher nicht ausdrücklich eingewilligt hat. Doch auch wenn Unternehmen seit dem Jahr 2013 Bußgelder von bis zu 300.000 Euro fürchten müssen, sind derartige “Cold Calls” weiterhin verbreitet, wie die Studie von “Marktwächter Energie” belegt, für die das Meinungsforschungsinstitut Forsa mehr als 10.000 Verbraucher befragt hat. Danach hat es “gut jeder vierte Deutsche schon einmal erlebt, dass er ohne sein Einverständnis am Telefon oder an der Haustür kontaktiert wurde und ihm Produkte oder Dienstleistungen aus dem Bereich Energie angeboten wurden”.

Manche Verkäufer geben vor, sie würden im Auftrag der Bundesnetzagentur anrufen

Manche Betroffene berichten, sie seien im vergangenen Jahr sogar mehrfach kontaktiert worden; ein Indiz dafür, dass sich das Problem verschärft. “Bisher kannten wir diese Praxis vor allem aus dem Telekommunikationsbereich”, sagt Verbraucherschützerin Saerbeck, “aber die Masche ist offenbar auch auf dem Strom- und Gasmarkt angekommen.”

Wer angerufen wird, dem ergeht es nicht selten wie Baier, der sich von der Anruferin nicht nur falsch informiert, sondern auch unter Druck gesetzt fühlte. Auch das zeigt die Studie der Verbraucherschützer, die etwa 1.000 von Werbeanrufen betroffene Verbraucher noch einmal explizit zu ihren Erfahrungen befragt haben. Danach empfanden 75 Prozent der Befragten das Gespräch nicht als angenehm, 58 Prozent beklagten, dass der Gesprächspartner sich nicht ausreichend vorgestellt habe, knapp 41 Prozent fühlten sich unter Druck gesetzt, 35 Prozent sogar regelrecht getäuscht. “Die unseriösen Werber spielen mit allen Tricks”, sagt Expertin Saerbeck, “es kommt vor, dass sie erst mal sehr freundlich sind und dann sehr fordernd werden; teilweise vermitteln sie den Eindruck, sie seien unabhängige Energieberater.” In einem Fall hätte der Anrufer sogar vorgegeben, im Auftrag der Bundesnetzagentur anzurufen.

Und nicht selten münden die unerwünschten Anrufe in einen neuen Strom- oder Gasvertrag. Dass das so leicht möglich ist, ist eine Nebenwirkung der Liberalisierung auf dem Energiemarkt. Sie macht es Verbrauchern leicht, schnell und ohne viel Papierkram ihren Energieversorger zu wechseln, wenn sie ein günstigeres Angebot entdecken. Das erhöht den Wettbewerb unter den Anbietern und sorgt so für niedrige Preise. Und eigentlich funktioniert das auch ganz gut: Nach Angaben der Bundesnetzagentur haben allein im Jahr 2017 rund 4,7 Millionen Menschen den Stromlieferanten gewechselt und 1,5 Millionen ihren Gasversorger. Um zu wechseln, genügt es zum Beispiel, dem neuen Anbieter den Namen, die Adresse und die Nummer des Stromzählers oder die Kundennummer beim bisherigen Lieferanten mitzuteilen. Damit kann der neue Anbieter den alten Vertrag kündigen und mit der Versorgung beginnen. Der Alt-Anbieter muss nicht einmal überprüfen, ob der neue Anbieter wirklich mit der Kündigung des alten Vertrags beauftragt wurde; der neue Anbieter muss nur angeben, im Besitz einer solchen Vollmacht zu sein. Ein paar Daten genügen also – und schon lässt sich ein Vertragswechsel einleiten.

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