/Gina Miller: “Großbritannien war einfach zu arrogant”

Gina Miller: “Großbritannien war einfach zu arrogant”

Gina Miller wurde als Tochter indischer Eltern in Guyana als Zehnjährige nach Großbritannien zur Schulausbildung
geschickt. Sie ist Unternehmerin in der Londoner City, Juristin und hat 2016
vor dem britischen Obersten Gerichtshof durchgesetzt
, dass die britische
Regierung die EU erst über den geplanten Brexit nach Artikel 50 informieren
durfte, nachdem das Parlament zugestimmt hatte.

Sie gründete zudem die Kampagne End the Chaos, mit der die Bevölkerung über den Brexit aufgeklärt wird. Sie
erwägt, nach dem Brexit, wenn es eine neue liberale Partei der Mitte geben
sollte, in die Politik einzusteigen.

ZEIT ONLINE: Frau Miller, am
Dienstag wird das britische Parlament voraussichtlich gegen den Brexit-Kompromiss
zwischen Großbritannien und der EU stimmen
. Damit droht in Großbritannien eine
Verfassungskrise. Wie konnte es so weit kommen?

Gina Miller: Großbritannien
war einfach zu arrogant und hat die EU völlig unterschätzt. Die britische Seite
hat lange Zeit geglaubt, dass die Europäer irgendwann schon auf ihre
Forderungen eingehen und letztlich nachgeben werden. Diese Fehleinschätzung
rächt sich jetzt.

ZEIT ONLINE: Den Briten wird
oft vorgeworfen, bis heute nicht wirklich zu wissen, was sie überhaupt wollen.

Miller: Das stimmt. Viele
Politiker in Großbritannien – ob einfache Parlamentarier oder
Regierungsmitglieder – haben nicht einmal versucht zu verstehen, worum es in
den entscheidenden Verhandlungspunkten überhaupt geht.

ZEIT ONLINE: Warum?

Miller: Sie waren einfach
extrem naiv. Von den 650 Abgeordneten im Parlament haben zu Beginn der
Brexit-Verhandlungen nur 87 Parlamentarier die vertraulichen Studien der
Regierung zu den Konsequenzen des Brexits überhaupt durchgelesen. Die meisten
sagten sich einfach:  “Das wird schon
klappen. Die Details sind nicht wichtig.” Ein Kabinettsmitglied sagte mir, er
habe erst im Juli 2018 auf einer Fahrt nach Norwegen verstanden, was es mit dem
Norwegen-Modell auf sich habe. Gleichzeitig wurden den britischen
Verhandlungsführern Vorgaben gemacht, die nicht zu erfüllen sind.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie
konkret?

Miller: Die britische
Regierung hat Rahmenbedingungen für die Verhandlungen gesetzt, die
zusammengenommen unrealistisch waren: Raus aus dem Binnenmarkt, raus aus der
Zollunion, Ende der Arbeiterfreizügigkeit. Zugleich aber wollte sie einen reibungslosen
Handel über die Grenzen und keine harte Grenze in Irland. Das kommt dabei
heraus, wenn man dem Volk falsche Versprechungen macht. Wir haben den Leuten
Geschenke versprochen, und heute ist klar, dass der Brexit eine Belastung sein
wird. Es ist ein Akt der
Selbstzerstörung. Das Land isoliert sich, und es gibt keinen realistischen
Plan für die Zukunft.

Es ist als Politiker leicht,
zu sagen: “Es geht euch schlecht. Ihr habt Anspruch auf etwas Besseres.” Viel schwerer
ist es, ehrlich zuzugeben, dass man Fehler gemacht hat und diese jetzt korrigieren
muss.

ZEIT ONLINE: Welche Fehler
besonders?

Miller: Die Politik hat die gesellschaftlichen Folgen der
Finanzkrise, die Konsequenzen der harten Sparpolitik und die Folgen des
technologischen Wandels nicht gelöst. Stattdessen spielen die Politiker
Machtspiele. Leider ist das nicht nur in Großbritannien so. Man kann den Brexit
nicht losgelöst von Trump sehen, vom Rechtsruck in der Politik in Europa, vom
Rechtspopulismus. Wir hatten das vor
fast 100 Jahren schon einmal. Wir wissen, wie es endete.

ZEIT ONLINE: Wie gefährlich
ist die derzeitige Situation für die Demokratie in Großbritannien?

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