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Paris: Eine Stadt verbarrikadiert sich

Mit der Dämmerung bricht auch die Wut über
Paris herein. Seit Stunden stehen sie sich auf den Champs-Elysées gegenüber,
die “Gilets Jaunes” in ihren leuchtend gelben
Warnwesten und die Einsatzkräfte der Polizei in ihren Kampfanzügen. Seit dem
Vormittag haben die Sicherheitskräfte die Demonstranten immer wieder mit
Tränengasgranaten und Flashballs am Vorrücken auf den Triumphbogen gehindert.
Sobald der Rauch und der beißende Geruch sich legt, beginnt das Kräftemessen
von Neuen.

Ab dem Spätnachmittag dann suchen einige Entschlossene die
Entscheidung. In den Nebenstraßen gehen geparkte Autos und Müllcontainer in
Flammen auf. Geschäfte, die nicht vorsichtshalber mit Gittern oder
Sperrholzplatten gesichert wurden, werden mit Eisenstangen und Pflastersteinen
attackiert. Schaufenster gehen zu Bruch, Läden werden geplündert.

Seit vier Wochen erlebt Frankreich den
Aufstand gegen die Politik von Staatschef Emmanuel Macron und seiner Regierung.
Längst geht es nicht mehr nur um die – inzwischen ausgesetzte – Ökosteuer auf
Benzin und Diesel. Die Menschen, die auch an diesem Samstag aus dem Umland und
weiter entfernten Regionen in die Hauptstadt gereist sind, verlangen eine
grundsätzlich andere Politik zu Gunsten ärmerer Bevölkerungsschichten. Soziale
Gerechtigkeit, die ihnen ihrer Meinung nach verwehrt wird. Deshalb skandieren
sie immer wieder “Macron Demission”. Macron und die Seinen sollen zurücktreten.

Weil also nicht mehr “nur” der Schutz vor gewaltsamen Ausschreitungen wie am
vergangenen Wochenende auf der Agenda steht, sondern inzwischen auch die
Zukunft der Regierung, hat diese ein Höchstmaß an Sicherheitskräften
mobilisiert: 8.000 Polizisten sind allein in Paris im Einsatz, 89.000 im ganzen
Land.  

“Letzte Warnung”, rufen die Polizisten

Bis auf einige Scharmützel ist diese
verschärfte Sicherheitsstrategie zumindest bei Tageslicht weitgehend
aufgegangen. Auch weil allein in Paris seit dem Morgen mehr als 700 zur Gewalt
bereite Demonstranten festgenommen wurden. Wen die Einsatzkräfte mit schweren
Boule-Kugeln im Rucksack, Messern oder Schlagstöcken erwischen, den verfrachten
sie sofort auf das nächste Kommissariat. Taucherbrillen und Schutzmasken gegen
Tränengas werden konfisziert. Wer sein
Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen will, hat offenbar auch das Recht auf die
volle Ladung Reizgas.

14 gepanzerte Fahrzeuge und zahlreiche Wasserwerfer
stehen zudem bereit. Die Polizisten sind auch befugt,
Tränengasgranaten des Typs GLI-F4 zu verwenden. Diese enthalten den Sprengstoff
TNT. Ihr Einsatz bei Demonstrationen ist deshalb höchst umstritten. “Letzte
Warnung”, rufen die Polizisten. Dann ertönt ein ohrenbetäubender Knall, und das
Atmen wird schwer. Am Abend spricht Innenminister Christophe Castaner von mindestens 135 Menschen, unter ihnen seien 17 Polizisten. Mittlerweile sei die Lage aber wieder unter Kontrolle.

Als sich am Spätnachmittag viele der von
weit her Angereisten nach und nach auf den Heimweg machen, bleibt ein harter
Kern zurück. Auf den Champs-Elysées können sie nicht viel ausrichten. Die
Pariser Prachtstraße, die vom Park der Tuilerien bis hinauf zum Triumphbogen
führt, erweckt bereits seit dem Vortag den Eindruck, als erwarte sie mindestens
ein schweres Unwetter. Kein einziges der Geschäfte, die normalerweise an einem
Adventswochenende gut besucht sind, ist an diesem Samstag geöffnet. Eingänge und Schaufenster sind vernagelt wie vor einem Hurrikan.
Blumenkästen, Tische und Stühle auf den Terrassen – alles,
was als Wurfgeschoss verwendet werden könnte, ist verräumt. Der am Abend rot
leuchtende Weihnachtsschmuck in den Bäumen links und rechts am Straßenrand
wirkt wie Hohn. In der Nähe der Kaufhäuser Galeries Lafayette und Printemps reißen Demonstranten Bäume aus und zünden sie an.

Am unteren Ende der Champs-Élysées und auch
vor den Zugängen zur Luxuseinkaufsstraße Faubourg Honoré haben die
Sicherheitskräfte mit Einsatzfahrzeugen und mehrere Meter hohen Trennwänden
Schutzwälle vor dem nahen Élysée-Palast des Präsidenten errichtet. Einige der Gilets Jaunes hatten dazu aufgerufen, den Palast zu stürmen.

Aber in den Straßen rundherum sind die
Vorkehrungen nicht ganz so scharf. Im Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit
bricht sich die Wut deshalb dort Bahn. Die Polizei kann den äußerst mobilen
kleinen Gruppen Gewaltbereiter oft nicht schnell genug folgen. Die Feuerwehr
ist nicht überall schnell genug zu Stelle, um die gelegten Brände zu löschen.
Die Sprechchöre werden lauter und unflätiger. Das F-Wort ist in vielen
Varianten zu hören.

Kann Macron das Land befrieden?

Frührentner Serge, der aus dem Pariser
Umland angereist ist und dem Treiben zusieht, hält Premierminister Edouard Philippe für den eigentlichen Brandstifter. “Philippe hör auf, mit
Streichhölzern zu spielen. Du steckst das ganze Land in Brand”, hat er auf sein
selbst gemaltes Transparent geschrieben. “Der Premier setzt die Politik von
Macron um. Die ganze Bande soll verschwinden,” fordert er. Und dann? “Soll es
Neuwahlen geben. Die jetzige Führung hat keine Legitimität.” Die Abgeordneten
der Macron-Bewegung LREM machten Politik ausschließlich für die Reichen, obwohl
sie vor eineinhalb Jahren mit nur 13 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten
die absolute Mehrheit im Parlament erreicht hätten.

Jetzt rächt sich, dass Macron es bisher
nicht geschafft hat, die seit langem wie von einer unsichtbaren Mauer
getrennten Bürger in der Stadt und auf dem Land miteinander zu versöhnen. In
den Augen der Landbevölkerung verfolgt er vor allem eine Politik nach den
Interessen derer, die ihm und seiner Bewegung bei den Wahlen tatsächlich ihre Stimme gaben. Das waren meist gut situierte Städter, die mit seiner
Idee von Frankreich als Startup-Nation etwas anfangen können. Auf dem Land
haben viele Franzosen oft nicht einmal schnelles Internet. Und am Monatsende
bleibt häufig der Kühlschrank leer.

“Er ist jung. Wir dachten, er würde tatsächlich
vieles anders machen als frühere Präsidenten,” sagt Valerie, eine 48-jährige
Lagerarbeiterin aus der Bourgogne. “Aber er bringt uns um. Uns, unsere Kinder
und unsere Enkel.” Eigentlich sei sie eine friedfertige Frau, sagt Valerie.
“Aber wenn meine Familie angegriffen wird, wehre ich mich. Und wenn die da oben
nicht aufhören, uns anzugreifen, dann gibt es einen Bürgerkrieg.”

Am Abend loben Premierminister Philippe und
Innenminister Castaner Umsicht und  Einsatzbereitschaft der Polizei.
Die Ausschreitungen waren nicht ganz so gravierend wie am vergangenen
Wochenende. Zu Beginn der Woche will sich Staatschef Macron öffentlich
äußern. Ob er das Land befrieden kann, ist aber auch an diesem Abend
höchst ungewiss. 

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