/Angela Merkel: “Wir sind die Gewinner der Geschichte”

Angela Merkel: “Wir sind die Gewinner der Geschichte”

Ins Offene

“Wir sind die Gewinner der Geschichte!” Als Angela Merkel vor 18 Jahren in Essen den Vorsitz
der CDU übernimmt, klingt das wie pure Beschwörung. Denn die Partei fühlt sich damals – nach
dem Machtverlust 1998, der Spendenaffäre und dem Fall ihres Übervaters Helmut Kohl – eher wie
die Verliererin der Geschichte. Nur deshalb bekommt die protestantische, milieufremde Frau aus
dem Osten ja überhaupt ihre Chance, an die Spitze der katholisch-patriarchalen, westdeutsch
dominierten Partei zu treten. Also übernimmt Merkel das historische Selbstbewusstsein der CDU,
um es der niedergeschlagenen Partei im Moment ihrer bislang tiefsten Krise zurückzuspiegeln:
“Die CDU war immer auf der richtigen Spur. Wir sind die Gewinner der Geschichte. Unsere Bilanz
der letzten 50 Jahre stimmt.”

Den Stolz der CDU wird Merkel in den folgenden Jahren noch oft bedienen. Aus der Gewissheit
ihrer Erfolgsgeschichte heraus will sie die Partei bewegen, mit ihr “ins Offene” zu gehen. Ins
21. Jahrhundert mit seinen unübersehbaren Veränderungen und Herausforderungen. Sie weiß, “dass
die Sehnsucht der Menschen nach Maßstäben und Prinzipien eher zunehmen wird”. Aber Merkel
sieht die Partei mit dem “christlichen Wertefundament” gut vorbereitet. “Unser Kompass stimmt”
– dieser Satz wird zu einer Leitmelodie der nächsten Jahre. Doch sie weiß zugleich, dass die
christdemokratischen Prinzipien abstrakt genug sind, um sie in ihrer konkreten Politik nicht
zu sehr zu fesseln. Denn “die Konservativen der Zukunft erkennt man am Mut zur
Veränderung”.

Schon bei ihrer ersten Rede in Essen zeichnet Merkel ein Bild der Globalisierung, das heute
wie eine Vordeutung auf die Flüchtlingskrise klingt. “Globalisierung bedeutet, dass wir alle
in einer Welt leben. Umweltverschmutzung, Ressourcenverbrauch, Bevölkerungswachstum, das
trifft uns in Zukunft alle immer mehr und immer direkter. Wir können heute die Augen nicht
mehr vor den Dingen verschließen, die an anderen Plätzen der Erde passieren.” So hellsichtig
diese Schlüsselbotschaft heute klingt, so wenig konnte Merkel ihre Partei in all den Jahren
davon überzeugen, sie zum Maßstab ihrer Politik zu machen. Auch deshalb ist ihre
Flüchtlingspolitik und der Zermürbungskampf, den sie auslöste, der eigentliche Grund, warum
Merkel nach 18 Jahren den CDU-Vorsitz aufgibt.

Reform-Euphorie

Merkel, die in Hannover die “Rückkehr des Politischen” proklamiert hat, präsentiert ein Jahr
später in Leipzig ihr Reformprogramm. “Wir arbeiten in die Zukunft hinein. Das ist unser
Thema, das ist unser Ansatz, und diesen werden wir hier zur Vollendung bringen”, verspricht
sie auf dem Parteitag. “Wir, die Christlich Demokratische Union Deutschlands, haben die
programmatische Kraft, den geistigen Führungsanspruch und den politischen Gestaltungswillen,
Deutschland wieder nach vorne zu bringen.”

Der Parteitag wird zum rauschhaften Höhepunkt von Merkels früher Karriere. 15 Jahre danach
erstaunt “Leipzig” nicht wegen der Substanz der Reformvorschläge, sondern vor allem wegen des
atemberaubenden Pathos, zu dem sich eine später recht nüchterne Politikerin damals noch
hinreißen lässt. Mit dem Leipziger Aufbruch, so Merkel am Ende ihrer Rede, werde die Union
ihrem historischen Auftrag gerecht, um später einmal sagen zu können: “Wir haben das Richtige
angepackt, wir haben das Richtige getan, wir waren mutig, wir haben uns der Verantwortung
gestellt, und wir können der Geschichte ins Auge sehen.”

Doch aus der geplanten revolutionären Steuerreform wird dann nichts, die Umgestaltung des
Gesundheitssystems endet im Klein-Klein der großen Koalition. Die Erkenntnis, dass nicht ihre
Leipziger Konzepte “Deutschland nach vorne bringen”, sondern ausgerechnet die
Reformanstrengungen ihres mit Hohn und Spott übergossenen Vorgängers, gehört zu den ganz
großen Pointen in Merkels Karriere.

Reaktionärer Zwischenstopp

Ein Jahr regiert Merkel nun mit den Liberalen, und manch einer in der Union sehnt sich nach
den Sozialdemokraten zurück. “Die Enttäuschung über den Anfang der christlich-liberalen
Koalition wiegt umso schwerer, als wir doch elf Jahre gewartet, gekämpft, gehofft und darauf
hingearbeitet haben”, sagt die CDU-Vorsitzende. Desto schärfer attackiert sie nun wieder den
politischen Gegner. “Einen Auftrag von historischer Tragweite” sieht sie darin, “unserem Land
Rot-Rot-Grün zu ersparen”. Schwarz-Grün nennt sie ein “Hirngespinst”. Die Grünen sind für
Merkel die Dagegen-Partei, die mit ihrer Politik des Verhinderns die Zukunft des
Industrielandes Deutschland gefährdet. Die SPD, mit der zusammen sie erfolgreich die
Auswirkungen der Finanzkrise bekämpft hat, sieht sie jetzt “auf der Flucht vor der
Verantwortung”.

Dagegen proklamiert die Kanzlerin: “Die Entscheidungen, wie wir sie in diesem Herbst treffen,
dürfen zunächst durchaus umstritten sein. Sie werden sich später als notwendig erweisen und
schließlich überzeugen.” Unter anderem beschließt der Parteitag die Laufzeitverlängerung für
Atomkraftwerke – ein Frontalangriff gegen das rot-grüne Erbe, der die Partei begeistert. Gegen
den zu erwartenden Widerstand der Opposition erklärt die Kanzlerin: “Von Leuten, die – anders
als wir – Energiepolitik als Ideologie betreiben, lassen wir uns keine Vorhaltungen
machen.”

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