/“Astrid”: Gegen die verdammte Scham

“Astrid”: Gegen die verdammte Scham

“Hallo Astrid, ich
frage mich, warum du so gut darüber schreiben kannst, wie es ist, ein Kind zu
sein, obwohl deine Kindheit so lange her ist”, schreibt ein kleiner Junge. Während die alte Astrid Lindgren an ihrem Schreibtisch steht und in den Bergen von
Geburtstagsbriefen ihrer jungen Leser stöbert, öffnet der Film ein Fenster in die Kindheit der Schriftstellerin.

Astrid, die mit ihren Geschwistern herumtobt, im
Gemeindehaus Charleston tanzt, nachts im Schnee mit einem Nachbarsjungen aus
vollem Halse in die Landschaft schreit, im Gottesdienst Faxen macht, mit dem
Vater den Stall ausmistet, Kartoffeln aussät und ihren Geschwistern Geschichten
erzählt. Es ist die Welt, die man aus Lindgrens Büchern kennt, die
Welt von Lisa, Lasse, Bosse, Britta, Inga und Ole in Bullerbü, von Michel in
Lönneberga oder Madita auf Birkenlund. 

Doch der dänischen
Regisseurin Pernille Fischer Christensen (Eine
Familie
) ging es nicht darum, ein fröhlich unbeschwertes Coming of Age der schwedischen
Nationalheiligen zu zeichnen. Sie beleuchtet in Astrid auch die weniger bekannten, dunklen Seiten dieser Jugend: Die
Beziehung der 18-jährigen Astrid zu dem sehr viel älteren, verheirateten
Redakteur der Lokalzeitung, bei der sie zunächst als Sekretärin und später auch
als Reporterin arbeitet. Als sie schwanger wird, bringt
sie das Kind 1926 in Kopenhagen zur Welt, in der einzigen Klinik in Skandinavien, in denen
Frauen Anonymität zugesichert wurde. Im Film wird der kleine Lars von einer dänischen
Hebamme (Trine Dyrholm) aufgezogen, bis die Scheidung des Kindsvaters vollzogen
war. Wäre die Existenz des Kindes vorher offiziell bekannt geworden, hätte die Ehefrau des Redakteurs ihn wegen Unzucht ins Gefängnis bringen können.

Dass die Göttin der schwedischen
Kinderliteratur hier als Ehebrecherin gezeigt wird, gefällt nicht jedem. Lindgrens Tochter
Karin Nyman
erklärte, ihre Mutter habe niemals über
ihre Beziehung zu dem Redakteur gesprochen und hätte einem Film mit
diesem Thema auf keinen Fall zugestimmt. Tatsächlich verändert die Geschichte
von der Frau, die ihr Kind weggegeben hat, den Blick auf Lindgren, sie bereichert
ihn aber auch.

Gerade diese prägende Phase ihres
Lebens verrät viel über den rebellischen Geist der Schriftstellerin, aber auch über
die Traurigkeit, die sich in ihren Kinderbüchern widerspiegelte. Lindgrens starker
Willen, mit dem sie sich schon als Teenager über alle Konventionen ihrer Zeit
hinwegsetzte, lebte in den Heldinnen ihrer Bücher weiter, in Pippi Langstrumpf, Ronja oder Madita. Und ihr Kampf um ein selbstbestimmtes Leben ist auch heute, fast 100 Jahre später, noch
höchst aktuell.

“Diese Geschichte zu erzählen ist sehr
wichtig”, sagt die Hauptdarstellerin Alba August (bekannt
aus den TV-Serien Jordskott
und The Rain)
im Gespräch in Berlin. “Nach den Vorführungen kamen so
viele Leute auf mich zu und erzählten, dass ihre Großmütter, Mütter oder
Schwestern Ähnliches erlebt haben.” Für Lindgren sei die Schwangerschaft
und die heimliche Geburt ein traumatisches Erlebnis gewesen, das ihr ganzes
Leben lang nachgewirkt habe. “Und gegen diese verdammte Scham wollten wir
angehen, denn sie ist etwas ganz Furchtbares.”

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