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Deutsche Bahn: Stilles Gleis

Das Chaos auf Deutschlands Gleisen wird von einem Großraumbüro in Frankfurt am Main aus verwaltet. Mittendrin: Achim Wolters. Der 60-Jährige fing 1974 bei der Deutschen Bundesbahn an und hat gerade den schwierigsten Job aller Zeiten. Er leitet das Betriebsmanagement der Deutschen Bahn. Das bedeutet, Wolters wacht über etwa 40.000 Personen- und Güterzüge, die täglich auf den Schienen in Deutschland unterwegs sind. Sie alle sollen planmäßig abfahren und ankommen. Und tun es leider immer seltener.

30 Kollegen hat Wolters, die rund um die Uhr auf Bildschirmen Züge begleiten. Die Schreibtische im Großraum sind zu runden Inseln zusammengeschoben. “Personenverkehr 2” steht über einem. Zehn Bildschirme zeigen am vergangenen Dienstagmorgen die Lage im Land: Auf der Strecke Fulda-Frankfurt-Mannheim kommen sich ein ICE aus Hamburg und einer aus München in die Quere. Beide wollen zum Frankfurter Hauptbahnhof. Der Hamburger hat sechs Minuten Verspätung, der Münchner ist pünktlich. Er darf zuerst in den Bahnhof einfahren. “Wenn wir den Hamburger vorlassen, hat der Münchner auch Verspätung”, sagt Wolters. So geht das alle paar Minuten.

In diesem Raum wird darüber entschieden, welcher Bahnpassagier seinen Anschluss verpasst, welcher zu spät ins Büro kommt und wessen Date am Gleis womöglich platzt. Monitore im Flur zeigen die Lage der aktuellen Kalenderwoche (KW) an: “aktuelle KW 71,9 Prozent”, steht darauf. Das bedeutet: 71,9 Prozent aller Züge waren in dieser Woche pünktlich. Im November waren es 70,4 Prozent. Anders ausgedrückt: Drei von zehn Schnellzügen haben mehr als sechs Minuten Verspätung.

In diesem Jahr wurde es schon zum Ereignis erklärt, wenn Reisende pünktlich ankamen, im Zug Klimaanlage, Kaffeemaschine und Klospülung funktionierten. Und wer nun glaubt, im Dezember gibt es ein Vorweihnachtswunder, wird enttäuscht. Während der Feiertage droht neues Chaos. “Entweder das System funktioniert, oder es funktioniert nicht. Sie können die derzeitigen Mängel nicht einfach ein paar Tage überspielen”, sagt der langjährige einstige Technikvorstand Volker Kefer der
ZEIT. Der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende und Gewerkschaftsfunktionär Alexander Kirchner, wird noch deutlicher: “Die Bahn ist derzeit in ihrer schlechtesten Verfassung seit der Privatisierung.” Und Claus Weselsky, Chef der mächtigen Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, sagt: “Das System ist kollabiert.”

Eine schöne Bescherung.

Der Grund dafür: Es sind einfach zu viele Menschen unterwegs, als dass die Bahn mit deren Transport fertigwürde. Im Jahr 2018 leben fast zwei Millionen Deutsche in Fernbeziehungen, mehr als eine Million pendeln täglich mit der Bahn zur Arbeit, viele von ihnen sind auf der Langstrecke unterwegs und legen mehr als 150 Kilometer pro einfacher Fahrt zurück. Das war nicht immer so extrem. Die Zahl der Bahnfahrten ist aufs Jahr gerechnet seit 2002 um 350 Millionen gestiegen. Ein Zuwachs um fast 30 Prozent.

Knapp 400.000 Menschen – die Städte Kassel und Magdeburg zusammengenommen – sind Tag für Tag in den Sorgenkindern IC und ICE unterwegs. Selbst die Liberalisierung des Fernbusmarktes 2013 hat den Verkehr nicht von der Schiene zurück auf die Straße verlagert. Im Gegenteil.

Das Wachstum des Fernverkehrs sei “die Folge eines Preiskriegs mit den Fernbussen, die zusehends von Flixbus dominiert wurden”, erinnert sich Ex-Vorstand Kefer. Weil mehr Busse über die Autobahn fahren, steigen auch mehr in den ICE? Klingt verrückt! Doch Kefer hat eine plausible Erklärung: “Wir haben massiv vergünstigte Tickets in den Markt gebracht. Der Umsatz legte in der Folge kaum zu, aber die Zahl der Mitfahrer stieg rasant.”

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