/Videospiele in der DDR: Sommer vorm Computer

Videospiele in der DDR: Sommer vorm Computer

Im Juni 1989 standen die Sommerferien bevor, Hunderttausende Frauen und Männer in der Deutschen Demokratischen Republik planten für die Urlaubszeit im Juli und August. Eine Reise nach Ungarn zum Beispiel. Dass manche wenige Wochen später von dort über die Grenze nach Österreich in den Westen fliehen würden, ahnten viele von ihnen wohl selbst noch nicht.

Ein Hauptmann in Diensten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) war im Juni ’89 derweil mit einer ganz eigenen Sommerferienplanung beschäftigt. Der Stasi-Offizier hatte den Auftrag, zusammen mit einem Feldwebel des MfS ein Computerkabinett einzurichten im Kinderferienlager Freienbrink, das die Massenorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) betrieb. 10- bis 14-Jährige, die dort, südöstlich von Berlin, den Juli und August verbringen würden, sollten an Rechnern geschult werden. 

Kinderbetreuung ist nicht gerade eine Aufgabe, bei der man üblicherweise an zwei Mitglieder des Geheimdienstes der DDR gedacht hätte. Aber die Stasi half offenbar, wo sie konnte, wenn es um Computer ging. ZEIT ONLINE hat ein rund 600-seitiges Konvolut von Dokumenten des MfS ausgewertet, die aus den Vorwendejahren stammen und in denen es darum geht, wie der DDR-Geheimdienst sich auf den Umstand einstellte, dass in jener Zeit Computer in viele Lebensbereiche Einzug hielten, bei der Arbeit ebenso wie in der Freizeit.

Mit dem Heimcomputer gab es da erstmals einen Rechnertyp, der als Massenprodukt konzipiert und für die private Nutzung bestimmt war. Gerade Jugendliche waren fasziniert von den Kisten und insbesondere von den Computerspielen, die man darauf zocken konnte. Staatliche Stellen der DDR wiederum hatten ein Interesse daran, dass Kinder und Jugendliche den Umgang mit Rechnern lernten. Aber nicht zum Spaß.

Bei der Lektüre der Akten aus dem Bestand des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit (BStU) wird deutlich, dass sich das MfS wie andere Organisationen der DDR beim Thema Computer in einen Konflikt hineinbewegte. 

Die digitale Zukunft der DDR

Einerseits betrachteten Mitarbeiter des MfS in den Achtzigerjahren ausweislich der ZEIT ONLINE vorliegenden Unterlagen mit wachsender Sorge, dass sie wenig Kontrolle über die zunehmende Verbreitung von Software und Games in der DDR hatten – insbesondere für Westcomputer wie den C64. Deren private Einfuhr wurde vom DDR-Zoll nicht verhindert, sehr wohl aber die von Software. Doch die Leute kamen trotzdem an Programme, viele Jugendliche etwa tauschten Spiele in Computerclubs, die überall im Land entstanden und gleich von der Stasi kritisch beobachtet wurden. (Lesen Sie dazu auch den ersten Bericht dieser Recherche von ZEIT ONLINE.

DDR – Die Stasi spielte mit
In den Achtzigerjahren stufte die Stasi junge Gamer als Gefahr ein. Bei Treffen der Zockerszene waren deshalb auch immer Spitzel dabei.

© Foto: Collage: Sven Wolters

Andererseits hatte die Staatsführung mit dem Beschluss zur Entwicklung der
Mikroelektronik des Zentralkomitees der SED im Jahr 1977 den Aufbau
einer eigenen Computerindustrie auf den Weg gebracht. Die Zukunft der
DDR-Wirtschaft sollte dieser Technologie gehören.
Entsprechend musste Know-how angesammelt und sollten gerade jungen
Menschen Computer nahegebracht werden. 

Dabei half die
Stasi zum Beispiel in Ferienlagern wie dem in Freienbrink. Was die hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter dort genau vorhatten, ist in einer auf den 12. Juni 1989 datierten “Konzeption” der Abteilung XIII des MfS festgehalten. Diese Abteilung war vor allem damit betraut, in Köpenick das Rechenzentrum des DDR-Geheimdienstes zu betreiben, auf dessen Großrechnern etwa Datensätze der für die Auslandsspionage zuständigen Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) lagerten. Doch bei diesem Auftrag ging es nicht darum, wie sonst zum Beispiel die Erkenntnisse der HV A über den Westen unter anderem in alte Siemens-Rechner einzupflegen und die Daten durchsuchbar zu machen.

“Bei den Kindern das Interesse wecken”

Als “Zielstellung” für das Computerkabinett im FDJ-Ferienlager wurde in dem Papier definiert, “bei den Kindern das Interesse für die Elektronik und Informatik zu wecken bzw. zu vertiefen. Im Rahmen einer anfänglich spielerischen Nutzung der Computer werden eventuell vorhandene Hemmungen abgebaut.” Dabei sollte “ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Spiel und Wissensvermittlung gewahrt” werden. Die Schüler würden die “Funktionsweise (Grundaufbau) von Computern” beigebracht bekommen und eine “spielerische und aufgabenbezogene Nutzung der Computer”. Dafür würden unter anderem “Spielprogramme eingesetzt, die anschaulich die Nutzung des Computers demonstrieren, pädagogisch wertvoll sind und den Kindern Freude bereiten”. Das klingt fast nach menschenfreundlicher Sozialpädagogik.

Videospiele in der DDR: "Darüber hinaus wird für den Zeitraum 06. 07. 1989 – 24. 08. 1989 ein PC 1715 benötigt": Während im Sommer '89 in Ungarn der Massenexodus von DDR-Bürgern nach Österreich begann, sollten nahe Berlin Kinder an Computern geschult werden.

“Darüber hinaus wird für den Zeitraum 06. 07. 1989 – 24. 08. 1989 ein PC 1715 benötigt”: Während im Sommer ’89 in Ungarn der Massenexodus von DDR-Bürgern nach Österreich begann, sollten nahe Berlin Kinder an Computern geschult werden.
© Quelle: BStU

Zunächst aber brauchte der Stasi-Hauptmann die nötige Hardware für das Computerkabinett im Ferienlager. Auch dafür war die Abteilung XIII zuständig. Am 21. Juni 1989 quittierte der Offizier den Erhalt eines “Computers HC 900”, der da eigentlich längst anders hieß, nämlich KC 85/2. Dieser “Kleincomputer” war ein nicht sehr erfolgreicher Versuch der DDR in den Achtzigerjahren, mit damaligen westlichen Heimcomputern konkurrenzfähige Rechnertypen zu entwickeln. Die folgenden Baureihen KC 85/3 und 85/4 waren technologisch dann wesentlich ausgereifter.

In einem ebenfalls auf den 12. Juni 1989 datierten Papier bestätigte der Chef der Abteilung XIII des MfS, dass der Hauptmann eigentlich noch mehr Rechner benötigte. In erster Linie sollte die FDJ diese selbst aus einem ihrer Computerkabinette bereitstellen. Aber: “Zur Erweiterung der hardwareseitigen Basis des Kabinetts im KFL Freienbrink ist vorgesehen, über die vorhandene Technik hinaus zwei NSW-Kleincomputer aus den (sic) Asservatebestand der Abt. XIII einzusetzen.” Die Abkürzung NSW steht für “nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet”, den Westen also. Die Kinder, die nahe Berlin staatlich organisierte Ferien verbringen würden, sollten auch an Westrechnern erste Erfahrungen mit der noch relativ neuen Technologie machen. Dafür wollte die Stasi ihr Lager öffnen.

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