/Hipana im Amazonaswald: In der Heimat der Zauberer

Hipana im Amazonaswald: In der Heimat der Zauberer

Alberto Lima da Silva lässt sein Boot ganz langsam über den Rio Aiary gleiten. Er starrt auf das Ufer des Flusses, summt kaum hörbar vor sich hin. Sie sind zu zweit unterwegs, er und sein alter Jugendfreund Plinio. Die beiden Männer vom Volk der Baniwa sind auf der Suche nach einer Pflanze, die sie zu mächtigen Schamanen machen soll.

Der Baum, den sie suchen, wird Virola genannt. Er wächst vorzugsweise in der Nähe von Gewässern, seine weißliche Rinde enthält eine der wirksamsten halluzinogenen Drogen der Welt: Dimethyltryptamin oder kurz DMT. Alberto da Silva sagt: “Die Götter haben uns die Virola-Bäume hinterlassen, damit wir in eine andere Welt reisen können.”

Sie legen mit dem Kanu an, stellen den Außenbordmotor ab und schlagen sich mit Macheten durch den Regenwald. Mit ihren Flip-Flops treten sie Gestrüpp nieder, mit den Armen wehren sie Stechfliegen, Wespen und Schmetterlinge ab. Es ist noch früh am Tag, aber die Sonne brennt schon heiß, hier im brasilianischen Amazonasgebiet nahe Kolumbien, 1300 Kilometer von der nächsten Großstadt Manaus entfernt.

Beim vierten Landgang werden sie fündig, ihre T-Shirts und Hosen triefen bereits vor Schweiß. Sie hacken auf den Virola-Baum ein, schneiden mit ihren Macheten in seine Rinde, schälen meterlange Streifen ab. Und sofort beginnt die Drogenproduktion: In einem Eimer wäscht da Silva die Innenseite der Rinde mit Wasser aus, das Harz löst sich, eine rotbraune Suppe entsteht. Die Männer machen ein Feuer und kochen die Suppe ein. Als sie eingedickt ist, vermengen sie sie mit verkohlter Rinde. Mit dieser Pampe fahren sie zurück ins Dorf, dort wird sie in der Sonne erst getrocknet, später zermahlen zu einem Pulver. Stolz werden sie es in alte Mentos-Döschen füllen.

Da Silva ist 60, Plinio 50 Jahre alt. Sie wurden beide am Ufer des Rio Aiary geboren, eines schmalen und reißenden Flusses im Amazonas-Quellgebiet, der für seine tückischen Felsen berüchtigt ist. Als Kinder sind Alberto und Plinio durch Stromschnellen geschwommen und haben sich im Kanu Wasserfälle hinabgestürzt. Mutproben waren das. Ihre Eltern haben sie mehr als einmal kurz vor dem Ertrinken aus dem Wasser gezogen. Jetzt sind sie gealtert und riskieren noch immer gemeinsam ihr Leben auf diesem gefährlichen Fluss. Nur dass sie diesmal nicht der kindliche Spaß antreibt, sondern eine Mission: die Welt ihrer Kindheit zu retten.

Das war eine bessere Welt, finden sie. Da Silva erzählt, dass die Erwachsenen, als er klein war, als einzige Kleidung ein Tuch zwischen den Beinen trugen. Wer jung war, kümmerte sich um die Dorfgemeinschaft und verschwendete keinen Gedanken daran, durchs Goldsuchen reich zu werden. Fische starben noch nicht aus, und Obstbäume wurden noch nicht gefällt, sie hatten alles zum Leben. Und Morde, sagt da Silva, habe es damals auch nicht so viele gegeben.

Aus der Sicht der alten Jugendfreunde ist es eindeutig: Über ihrem Heimatdorf, das in der Baniwa-Sprache Hipana heißt, lastet seit zwanzig, dreißig Jahren ein böser Fluch. Da Silva und sein Freund haben sich entschlossen, ihn zu brechen. Plinio ist der Lehrer des Dorfes, Alberto da Silva wohnt inzwischen ein paar Bootsstunden flussabwärts in einem anderen Dorf der Baniwa. Sie wollen ihre Kultur, bedroht von der modernen Zivilisation, mit ihren altbekannten Zaubermitteln retten.

Für die Baniwa-Indianer ist das Dorf Hipana ein besonderer, ein heiliger Ort. Ein paar Hundert Meter vom Dorf entfernt hat ein Wasserfall pechschwarze Löcher in den Fels gegraben, so tief, dass der Grund nicht mehr zu sehen ist. Wolken spiegeln sich in den Bassins rings um den Wasserfall, und die Wolken über dem Amazonasgebiet sehen mächtiger aus als anderswo auf der Welt.

Das Volk der Baniwa zählt mit seinen mehr als 10.000 Angehörigen zu den größten im brasilianischen Amazonasgebiet. Insgesamt wird die Zahl der Indigenen dort auf 300.000 geschätzt.

Viele von ihnen glauben, dass sich hier in Hipana die Erde, der Himmel und die Unterwelt berühren und dass die ersten Menschen einst aus diesen Wasserlöchern gestiegen sind. Sie sehen sich durch Felszeichnungen von Tiergöttern, Ritualen und Sternbildern bestätigt, die sich rings um den Wasserfall finden. Vermutlich sind sie Überreste einer vergessenen Kultur.

Das Dorf Hipana hat stets auch die mächtigsten Zauberer des Regenwalds hervorgebracht: die Jaguarschamanen. Sie können selbst schwerste Krankheiten heilen und mit bloßer Gedankenkraft ihre Feinde töten.

Alberto da Silvas Vater Manuel ist ein solcher Schamane, einer der letzten Jaguarschamanen überhaupt. Bis in die Achtzigerjahre war Manuel da Silva der mächtigste Mann des Dorfes, Schamane und Häuptling, also geistlicher und politischer Führer in einer Person. Heute ist er 98 Jahre alt, und seine Macht ist gebrochen. Er wohnt nicht mehr im Dorf, sondern bei Verwandten in der nächstgelegenen Kleinstadt São Gabriel, eine beschwerliche Wochenreise mit dem Boot entfernt.

Manuel da Silva ist ein Greis, der nicht mehr gehen kann und der den Tag auf einem Holzbänkchen mit Blick auf den Rio Negro verbringt. Hin und wieder empfängt er noch Patienten. Er überschüttet sie mit einem kalten Kräuterbad, murmelt Beschwörungsformeln, bläst Zigarettenrauch auf ihre Häupter und Hände. Aber schwere Krankheiten, sagt der alte Jaguarschamane, bekomme er längst nicht mehr in den Griff. Das Gift, das er aus den Körpern der Kranken sauge, bringe ihn allmählich selber um.

Sein Sohn Alberto findet, die Zeit für eine neue Generation von Schamanen sei gekommen. Er will, dass sein alter Herr seine Geheimnisse weitergibt, bevor er stirbt: vor allem an ihn, seinen Sohn. Bislang verdient Alberto da Silva seinen Lebensunterhalt, indem er Obst sammelt und Fische fängt. Einen Job als Hilfslehrer hat er auch. Alberto da Silva will Jaguarschamane werden und die Nachfolge seines Vaters antreten. Und dann wieder in sein Dorf zurückkehren, aus dem er vor zehn Jahren geflohen ist. Alberto da Silva ist fest davon überzeugt, dass er, wenn er endlich Schamane ist, alle Probleme seines Heimatdorfes lösen kann.

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