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Fluchterfahrungen: Mein Name ist Flüchtling

Als ich den Essay “Wir Flüchtlinge” von Hannah Arendt
las, war ich regelrecht schockiert. Obwohl ich von vielen ihrer Schriften über
Revolution, Demokratie und totalitäre Regime sehr beeindruckt bin, hat mich dieser
Text früher nicht interessiert. Doch nun lese ich ihn so, als wäre er wie ein Brief
an mich persönlich gerichtet, und er verdeutlicht mir, wie aktuell die Fluchterfahrungen
der Vergangenheit sind. Als sei die Geschichte eine sich drehende Röhre, in der
sich die Erfahrungen der Menschen auf geradezu absurde Weise in einer immer
gleichen Bewegung mitdrehten. Ich werde Hannah Arendt also mit 75 Jahren Verspätung antworten.

Rosa Yassin Hassan wurde in Damaskus, Syrien, geboren und lebt seit 2012 mit ihrem Sohn in Deutschland. Sie arbeitete als Architektin und widmet sich seit 2007 ausschließlich dem Schreiben. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, zuletzt "Die vom Zauber berührten" (2016). "Wächter der Lüfte" wurde 2011 ins Deutsche übersetzt. Sie hat 2006 die syrische Vereinigung "Frauen für Demokratie" begründet. Rosa Yassin Hassan ist Gastautorin von "10 nach 8".

Rosa Yassin Hassan wurde in Damaskus in Syrien geboren und lebt seit 2012 mit ihrem Sohn in Deutschland. Sie arbeitete als Architektin und widmet sich seit 2007 ausschließlich dem Schreiben. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, zuletzt “Die vom Zauber berührten” (2016). “Wächter der Lüfte” wurde 2011 ins Deutsche übersetzt. Sie hat 2006 die syrische Vereinigung “Frauen für Demokratie” begründet. Rosa Yassin Hassan ist Gastautorin von “10 nach 8”.
© Ahmad Alrifaee

Liebe Hannah,

es hat lange gedauert, bis ich mich an meinen neuen Beinamen Flüchtling
gewöhnt habe. Ehrlich gesagt kann ich immer noch nicht ganz nachvollziehen, wie er so plötzlich
aufgetaucht war, so rasch von mir Besitz ergriff und meine ganze Identität erfasste,
bis er geradezu an meinem Namen haftete. Ich wollte nicht Flüchtling genannt
werden, eher Neuankömmling oder Einwanderin. Genauso hast du, liebe Hannah, zu
Beginn deines Essays Wir Flüchtlinge die übertriebene Empfindlichkeit des Geflüchteten beschrieben.
War es eine Art Leugnen? Vielleicht. Ich befand mich in der Anfangszeit, die
ich die Zeit des Barsach nenne – und Barsach ist auf Arabisch der
Zwischenort: der Ort zwischen Erde und Himmel, wo die bestraften Seelen
schweben. Ich befand mich im Exil und war es doch nicht; ich lebte die Trennung
und Distanz zwischen Heimat und Exil als bestrafte Seele. Mich plagte ein
schlechtes Gewissen, weil ich in meinem Land alles zurückgelassen hatte und heil
entkommen war.

Tiefer Schmerz begleitete mich in jener Zeit. Mir ging es genauso,
wie du es beschriebst: Wenn wir gerettet werden, beleidigt man uns, wenn uns
geholfen wird, sind wir enttäuscht und fürchten uns davor, zu Bettlern zu
werden. Das wurde bei mir zu einer fixen Idee, und alles in meiner Umgebung
bestätigte dieses Gefühl noch: vom wütenden Gebrummel des Busfahrers bis hin zu
meiner deutschen Nachbarin, die mich stets anstarrt, als sei ich ein Wesen von
einem anderen Stern. Oder wenn ich gefragt werde, ob es bei uns in Syrien
Kühlschränke gebe oder Flughäfen und ob die Mädchen in die Schule gingen. Oder wenn mir von einer Jobcenter-Angestellten gesagt wird, Schreiben sei
kein Beruf. Wie kann man dieser Frau erklären, dass die moderne westliche Kultur
zu einem großen Teil das Werk von Migranten, Neuankömmlingen, Flüchtlingen
und Exilierten ist?

Um ehrlich zu sein, liebe Hannah: Ich habe versucht, mich von
meinen Landsleuten fernzuhalten, um ihnen nicht zu ähneln. Denn immer wieder bekräftigten
die Vorurteile der Deutschen mein Gefühl, sie hätten ein kollektives Bild von
uns und stempelten uns als Araber ab, die alle aus demselben rückständigen,
verschlossenen Landstrich in der Wüste kommen. Einmal forderte mich sogar jemand
auf, ihm nicht zu nahe zu kommen, weil er unter Kamelhaarallergie leide.
Kamelhaar?! Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Kamel gesehen! Hier kennt
mich niemand, niemand begreift hier, wer und was ich bin, denn ich bin Teil
einer großen Herde. Genau wie der kleine Dackel in deinem Brief, liebe Hannah,
der im Exil durch die Straßen läuft und behauptet, in seiner Heimat ein Bernhardiner
gewesen zu sein.

Jedenfalls habe ich meine Landsleute hier neu entdeckt. In
meiner Heimat lebte ich mit meinen Freunden, säkularen Intellektuellen, in
einer Blase, weit entfernt von der Gesellschaft, die wir nicht kannten und auch
nicht kennen wollten. Und ich kann behaupten, dass dies eine der positiven
Seiten des Exils ist: dass man vor dem Spiegel steht und alles, was man vorher
wusste, neu kennenlernt; dass man alle vorgefertigten Urteile, mit denen man
aufwuchs, ablegt, um neue, andere Betrachtungsweisen zu entwickeln. Leider sind
diese nicht immer positiv.

Und weil die Literatur in der Lage ist, für Flucht und Heimatverlust
eindringliche Worte zu finden, wie sich dein Zeitgenosse Leon Feuchtwanger vor 70 Jahren ausdrückte, war das Schreiben etwas, was mich auszeichnete. Ich
schrieb und schrieb, wie eine Besessene, stundenlang. Einige von uns Schriftstellern
verstummten im Exil, für andere wie mich wurde die Sprache zum Rettungsring.
Die arabische Sprache war das einzige, was ich aus meiner Heimat ins Exil mitgebracht
hatte, abgesehen von einer Tasche voller privater Fotos. Das Schreiben war eine
Therapie, ich ersetzte den schrecklichen Verlust und die Leere durch die
Sprache. Hast auch du die Leere des Exils durch die Sprache ersetzt?

Später entdeckte ich, dass sich nicht nur die Themen meines
Schreibens im Exil veränderten, sondern auch mein Wesen als Schriftstellerin
und die Bedeutung des Lebens für mich. Ich habe viel und lange über das
Flüchtlingsdasein nachgedacht. Ich habe es jahrelang geleugnet, denn darüber zu
lesen und sich philosophisch und psychologisch damit auseinanderzusetzen, ist
eine Sache; darüber zu schreiben, eine andere. Es bedeutet, dass das Flüchtlingsdasein
zu einer Realität geworden ist, die du täglich lebst, und dass dieses Dasein nicht
nur deinen Namen umhüllt, sondern auch tief in dein Unterbewusstsein eingedrungen ist und sich deinem Leben aufgezwungen hat. Genau
wie deine Geburt, die Liebe, die Geburt deines Kindes und schließlich der Tod.
Mein Flüchtlingsdasein wurde zu einer unbestreitbaren Tatsache, so sehr, dass
ich begann, mein ganzes früheres Leben als Ausdruck eines unbewussten Exils
zu betrachten. Das frühere Dasein schien mit allem Drum und Dran zerstört worden
zu sein. Erging es dir nicht auch so?

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