/“Tatort” München: In Österreich ist generell gar nichts verboten

“Tatort” München: In Österreich ist generell gar nichts verboten

Der Zufall ist ein komischer Vogel. Da schaut man jahrelang
ARD-Sonntagabendkrimi und nie kommt ein Au-pair-Mädchen vor. Und dann auf
einmal zweimal in Folge. Letzte Woche in Frankfurt (Oder)
als “schöne Leich”, wie man in Bayern sagen würde. Diese Woche in
München als Nebelkerze aus der globalen Gegenwart, wie man in Frankfurt (Oder) im
Leben nicht sagen würde.

Die Folge Wir kriegen
euch alle
(BR-Redaktion: Stephanie Heckner, Cornelius Conrad) ist grandios.
Sie spielt mit dem im ARD-Sonntagabendkrimi durchaus populären Motiv der Kindesgefährdung,
aber sie tut es auf feinsinnige Weise. Zumeist wird die Bedrohung des
kindlichen Wohls im Tatort zur Emotionsverstärkung genutzt:
Wenn es gegen die Schwächsten geht, soll die Publikumsseele keinen Spaß
verstehen. Bedrohung von Kindern ist das billigste Mittel, um Sympathie für
sich zu gewinnen, weil dagegen alle was haben. 

Zugleich können Krimis, die um 20.15 Uhr im deutschen
Fernsehen anfangen, Kindern schwer etwas antun; da ist der Jugendschutz vor.
Und deshalb ist es ein doppelt pikanter Moment, wenn der Ivo (Miro Nemec) und
der Franz (Udo Wachtveitl) einen Tatort inspizieren, an dem auf brutale Weise
Vater und Mutter umgebracht wurden und die Suche nach der Tochter zur Schaukel
im Garten führt, aus der ein Bein ragt, und man kurz denkt, dass die Leichen
bei diesem Massaker nur weiträumig verteilt worden sind, das Kind also auch tot
sein wird. Der Ivo gibt dann aber Entwarnung, weil die Kleine nur schläft.  


Matthias Dell schreibt seit 2010 wöchentlich über “Tatort” und “Polizeiruf 110”. Auf ZEIT ONLINE seit 2016 in der Kolumne “Der Obduktionsbericht”.
© Daniel Seiffert

An diesem prekären Moment tritt das Motiv von Wir kriegen euch alle
hervor, wo der
Film bis dahin vor allem interessant Verwirrung gestiftet hat. Es geht
um einen Rachefeldzug gegen Väter, die ihre Kinder missbrauchen.

Wie so häufig bei Krimis,
die das Schreibkombinat Kurt Klinke verlassen – jenem
Autorenverbund, zu dem Michael Comtesse und Michael Proehl gehören, die das
Drehbuch zu Wir kriegen euch alle
verfasst haben –, ist Täterwissen in the house. Soll heißen: Es ist was
passiert, aber statt dass die Kommissarinnen an drei verschiedenen Verdächtigen
herumraten, die abwechselnd besucht werden, kriegt das Publikum den Mörder schon
lange vor dem Ende zu Gesicht. Die Spannung resultiert in diesem Fall aus dem
Wettrennen von Polizei und Täter.

So ist in diesem Fall schon bald – was für ein Name! – Hasko Schmerbeck (Leonard Carow)
als Täter identifiziert. Er hat Smartpuppen aus Österreich importiert und an Kinder verteilt, bei denen er Missbrauch vermutet. Über die Puppe Senta
kann er mit ihnen kommunizieren und Übergriffe belauschen. Der Rachefeldzug
erweist sich jedoch als komplexer.

Beeindruckend ist an diesem Tatort, wie er das Wechselspiel mit Wissen und Nichtwissen bei der
Zuschauerin organisiert, besser gesagt: wohl dosiert (Regie: Sven Bohse). Denn
die hohe Kunst des Erzählens mit halb offenen Karten besteht etwa darin, dass
der Schmerbeck-Gehilfe einem schon vor der Nase rumgetanzt sein muss, ehe er
sich kurz vor Schluss offenbart in einer wirklich gut sitzenden Pointe (und
damit wiederum beim Betrachter weitere Schlussfolgerungen, neue Spannung
auslöst).

Da gibt es Haskos Selbsthilfegruppe-Kollegen Ralf, der von
Gewaltfantasien erzählt und mit Martin Feifel schon potenziell als Bösewicht
besetzt ist. Es gibt den Nachbarn von Hasko, der als verpeilter Kiffer
eingeführt wird, um später den Kleinbus von Hasko zur Ablenkung der
observierenden Polizei zu steuern. Es gibt den feierfreudigen Sohn Louis
(Jannik Schümann) im Hause Grein, dessen Geschichte etwas schräg liegt, weil
seine Probleme mit dem strengen Vater den möglichen Missbrauch an Schwester
Gretchen zu überdecken scheinen.

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