/Norbert Lammert: “Ironie ist ein riskantes Stilmittel”

Norbert Lammert: “Ironie ist ein riskantes Stilmittel”

ZEITmagazin: Herr Lammert, Sie waren 37 Jahre in der Politik. Die Bürger erwarten, dass die
Personen, die sie vertreten, besser sind als sie selbst. Wie sind Sie mit dieser Erwartung
umgegangen?

Norbert Lammert: Jedenfalls immer mit Respekt. Und die vielen Zuschriften, die ich bei meinem Ausscheiden aus dem Amt erhalten habe, stützen die liebenswürdige Illusion, dass viele nicht unzufrieden gewesen sind.

ZEITmagazin: Bei Ihren Reden gelten Sie als Meister der Pause. Wollen Sie, dass die Menschen wie
bei einem Erzähler an Ihren Lippen hängen?

Lammert: Hinter den Pausen steckt kein Kalkül. Ich brauche sie, um zu überlegen, was ich als Nächstes sagen will, und höre auch von Zuhörern, dass sie die Zäsuren gern als Chance nehmen, um mitzudenken.

ZEITmagazin: Ihr Vater war Bäcker, und Sie sind das älteste von sieben Kindern. Haben Sie Ihr
Redetalent schon als Kind ausprobiert?

Lammert: Ich habe jedenfalls von meinem Vater eine genetische Grundausstattung mitbekommen. Dass man in einer großen Familie zur Markierung eigener Ansprüche häufiger streiten muss, mag auch ein begünstigender Faktor gewesen sein. Ich glaube, es war ein Glücksfall, dass ich mit vielen Geschwistern unter nicht einfachen räumlichen und wirtschaftlichen Bedingungen aufgewachsen bin. Selten etwas auf dem Silbertablett serviert zu bekommen trägt zur Entwicklung eines stabilen Selbstbewusstseins bei.

ZEITmagazin: Sie haben einen Männerchor geleitet und wollten Dirigent werden. Kam Ihnen das als
Bundestagspräsident zugute?

Lammert: Da nicht unbekannt geblieben ist, dass ich gerne Dirigent geworden wäre, wurde natürlich oft dieser Zusammenhang hergestellt. Dabei besteht der wesentliche Unterschied darin, dass die Mitglieder eines Orchesters anders als ein Parlament alle nach der gleichen Partitur spielen. Deshalb muss ein Parlamentspräsident sicherstellen, dass sich alle an die gemeinsamen Regeln halten. Ich glaube aber nicht, dass die Kollegen mich als Dompteur wahrgenommen haben. Wohl aber als jemanden, der die Aufgaben dieses Amtes durchaus mit Durchsetzungsanspruch erfüllt.

ZEITmagazin: Das haben Sie 2016 bewiesen, als Angela Merkel während einer Rede der
Linken-Politikerin Gesine Lötzsch aufgestanden ist und mit Volker Kauder geredet hat. Sie
haben beide gerügt und gesagt, das müsse jetzt so nicht sein.

Lammert: Ein weit spektakulärerer Vorgang war, dass ich einmal die gesamte Linken-Fraktion des Saales verwiesen habe. Was hätte ich gemacht, wenn sie nicht gegangen wären? Was mich in dieser kritischen Situation gerettet hat, war die Einsicht ihrer Fraktionsführung, dass diese Entscheidung keine individuelle Marotte war, sondern eine im Ältestenrat abgestimmte Position, und damit auch von allen Fraktionen akzeptiert war.

ZEITmagazin: War es richtig, dass Angela Merkel den Parteivorsitz abgab?

Lammert: Die Entscheidung war in jeder Beziehung souverän: in der Sache wie im Zeitpunkt richtig, überzeugend begründet – mit der beispielhaften Gelassenheit, die Angela Merkels Amtsführung als Parteivorsitzende wie als Bundeskanzlerin kennzeichnet.

ZEITmagazin: Sie sollen von dem Jesuiten Claudio Aquaviva den Spruch übernommen haben, dass Sie
sanft in der Vorgehensweise, aber energisch in der Sache seien.

Lammert: Es erleichtert die Durchsetzung von Anliegen, wenn sie nicht mit Schaum vorm Mund und fundamentalistischer Gebärde erfolgt, sondern auch diejenigen, die das Anliegen nicht teilen, es nachvollziehen können. Die Demokratie ist aber kein System zur Vermeidung von Streit, sie ist dazu da, unvermeidlichen Streit in einer zivilisierten Weise auszutragen. Parlamente müssen stören.

ZEITmagazin: Sie wenden gern Ironie an, meinen aber, dass Ironie etwas sei, das nicht alle
verstehen.

Lammert: Ironie ist ein riskantes Stilmittel, und eigentlich kann man sie für öffentliche Auftritte nicht empfehlen. Allerdings ist Ironie eine Versuchung, der ich nur schwer widerstehen kann. Selbstkritisch muss ich aber einräumen, dass meine Fähigkeit zur Selbstironie nicht ganz so ausgeprägt ist wie die Neigung zur ironischen Kommentierung von anderen Vorgängen.

ZEITmagazin: Als Papst Benedikt hier war, standen Sie mit ihm vor dem Bundestag. Kauder sagte,
dass sich da zwei Unfehlbare getroffen hätten. Stimmen Sie dem zu?

Lammert: Natürlich nicht. Ich habe in vielen, auch kontroversen, Fragen Positionen bezogen, die sich sofort oder später als vernünftig herausgestellt haben. Aber einen Richtigkeitsanspruch kann es in der Politik gar nicht geben. Die Geschäftsgrundlage der Demokratie ist die Einsicht, dass niemand über die sicher richtigen Lösungen verfügt.

Das Gespräch führte Herlinde Koelbl. Sie ist Fotografin und gehört neben dem Psychologen Louis Lewitan, Evelyn Finger, Anna
Kemper, Ijoma Mangold, Christine Meffert und Khuê Phm zu den Interviewern unserer
Gesprächsreihe

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