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Black Midi: Kenne deine Götter und verrate sie

Glöckchen
an der Krippe festschrauben, selbst singende Kinderbücher kaufen, einmal wöchentlich
Musikschule für die Zweijährige – geht alles klar, wenn man sich vorher die
Konsequenzen gut überlegt. Aus Babys, die zum Krach erzogen werden, könnten
Teenager werden, die immer noch gern Krach machen, allerdings mit ganz anderer
Bewaffnung. Sie fordern Schlagzeuge und Saxofone, gründen Bands – und sobald
sie einen Song geschrieben haben, wollen sie nicht mehr Jura studieren.
Kreativität, Selbstverwirklichung, alles gut und schön. Aber möchte wirklich
irgendwer ein Kind haben, das Mitglied in der Künstlersozialkasse ist?

Black
Midi sind, was das betrifft, zugleich abgesichert und nicht mehr zu retten. Die
Teenage-Band stammt aus London, und in England regelt der NHS (theoretisch),
was hier die KSK regelt (theoretisch). Aber Black Midi lieben Krach, und man
muss nur die erste Minute des ersten Songs auf ihrer ersten Platte Schlagenheim
hören, um zu verstehen, dass diese Liebe ewig halten wird. Gitarre, Bass,
Schlagzeug und eine weitere undefinierbare Geräuschquelle (vielleicht ein
durchgebrannter Staubsaugerroboter) stellen die Zeichen auf atonalen Fehlstart.
Neun von zehn Bands befänden sich damit auf dem sicheren Karriereweg in die
Nerd-Rock-Nische.

Doch
dann zeigen Black Midi, wer sie wirklich sind. Plötzlich bricht das Stück
namens 953 auseinander, formiert sich millisekundenschnell neu und
treibt ein Gitarrenriff vor sich her, das mit jeder Wiederholung schneller und
gemeiner zu werden scheint. Der Sänger Geordie Greep sprechsingt im Tonfall
eines Hähnchens, das unvorhergesehenerweise noch einmal vom Grill springt. Es
geht um Sündenfälle und an eye for an eye, irgendwelchen Bibelkram, der die
Turmbauten zu Babel am Londoner Horizont kommentiert. Schließlich, nach
fünfeinhalb goldenen Minuten, klirrt das Geschirr, als sei man wirklich in der
Ikea-Kinderküche Duktig gelandet. “Leck mich fett”, sagen die Leute vom
Feuilleton zu so etwas.

Was
hier passiert: vier Männer zwischen 18 und 20, die Math-Rock spielen, ein
Musikgenre, das so heißt, weil die meisten seiner Protagonisten und wenigen
Protagonistinnen besser Mathe studiert hätten, als ihre Gitarrenlehrer zu triezen. Die heilige Ausnahme dieser Regel ist Steve Albini, ein Musiker,
Soundingenieur und Pokerspieler aus Chicago, der seit den frühen Achtzigern mit
Math-Rock-plus-X-Projekten wie Big Black, Rapeman und Shellac nervt. Was in
seinem Fall natürlich als Kompliment gemeint ist. Noch einflussreicher als
Albinis eigene schwarzhumorige Musik sind jedoch jene Platten, die er für
Nirvana, PJ Harvey und, sagen wir mal, die Band Cocaine Piss aufgenommen hat.

Black
Midi muss man das nicht mehr erzählen. Schon am trocken knirschenden Sound
ihres Bassisten Cameron Picton erkennt man, dass sie alles gehört haben, was
Albini jemals für die gängigen Streamingdienste freigegeben hat. Diese Band
weiß, zu wem sie beten muss, aber sie weiß auch, dass man in der Rockmusik
nicht weit kommt ohne Gotteslästerung. Also gönnt sie ihren Songs vermeintliche
Atempausen, die sich bei genauerer Beschäftigung als ebenso verwurschtelt
erweisen wie ihre lauten Passagen. Sie improvisiert an der kurzen Jazz-Leine
und beendet den Song Western mit einem Country-Part. Klängen Black Midi
nicht so sarkastisch, könnte man sie in diesen Momenten für die bemühteste
Proberaumband der Welt halten.

Was erlauben Black Midi?

Wie
kommen die jungen Leute darauf? Wie kommen sie auf die Idee, im Jahr 2019 noch
einmal so etwas wie innovative Rockmusik zu machen? Wo doch bald eine neue Xbox
erscheinen soll? Vielleicht kommen sie darauf, weil es gerade sonst niemand
tut. Es gibt in England keine stilprägende junge Rockband mehr, keine, die den
Sound, die Haltung oder wenigstens den Dresscode für alle anderen vorgibt, bis
über die Grenzen des eigenen Heimatlandes hinaus. Selbst die Arctic Monkeys
sind inzwischen Ü30, leben teilweise in Los Angeles und klingen wie überqualifizierte
Elvis-Imitatoren. Wo so etwas passiert, tun sich Freiräume auf. 

Black
Midi haben das erkannt und schütten die Freiräume mit allem zu, was spitze
Kanten hat oder sonst irgendwie wehtut. Es gibt keine Rockrettungsfantasien auf
ihrem Debütalbum, keine großen Verbindungsgesten zwischen Band und Publikum
oder andere altbekannte Versuche, die Aufmerksamkeit der (ohnehin dezimierten)
britischen Musikpresse zu wecken.

Solche Ideen scheinen Black Midi eher zu
amüsieren als anzuspornen. Ihre Krachmusik ist für den Moment gemacht – und für
ein paar Eingeweihte. Bleibt sie so furchtlos und ambitioniert wie auf Schlagenheim,
könnte sie trotzdem ein Modell für die Zukunft sein.

“Schlagenheim”
von Black Midi erscheint bei Rough Trade/Beggars/Indigo.

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