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Oregon: Ganz schön Portland hier

Dieser Artikel ist Teil des ZEIT-ONLINE-Schwerpunktes “Das gute Leben” aus unserem Ressort X. Eine Auswahl weiterer Schwerpunkte finden Sie hier.

Vielleicht gibt es ja Paralleluniversen,
die man durch Kleiderschränke oder Tapetentüren betritt, irgendwo in morschen
Häusern, von denen niemand weiß, wo sie sind. Zum Glück haben andere
Paralleluniversen einen Flughafen. Und am Flughafen von Portland gab es mal
einen Vorfall, der viel über diese Stadt und ihr Verhältnis zu sich selbst
aussagt. Möglicherweise noch mehr über ihr Verhältnis zum Rest der USA.

Also: Da war die Sache
mit dem Teppich.

Vor ein paar Jahren
haben sie ihn rausgerissen, fachgerecht entsorgt und ersetzt. Türkis,
blaue Striche, rote Punkte, das war lange Zeit der erste Boden unter den Füßen
all jener, die hier ankamen.
Man hörte von Menschen, die sich das Muster
tätowieren ließen. Es gab T-Shirts, sogar Socken, Schals und Poster, und sie
wurden tatsächlich gekauft. Portland war in Teppichtrauer.

In manchen Teilen der
USA wurde relativ herzlich gelacht. Dass es dort im Nordwesten des Landes
zwischen den dichten Bäumen und hohen Bergen des Staates Oregon diese
sonderbare Großstadt gibt, die ernsthaft eine Beziehung zu Bodenbelägen an
Flughäfen aufbaut, als ginge es um ein Deckenfresko aus der Renaissance. 

Und manche erinnerten
sich möglicherweise auch an den Satz, den sie aus dem Fernsehen kannten und den
in Portland jeder kennt; der zu der sentimentalen Idee dieses Orts gehört, die
seit ein paar Jahren Zehntausende dazu bringt, hierherzuziehen: Portland – wo
junge Menschen sich zur Ruhe setzen. Er stammt aus Carrie Brownsteins Fernsehserie Portlandia,
bei der nie klar ist, ob es eine Satire ist oder nicht doch eine Dokumentation.

Allerdings klingt “zur
Ruhe setzen” erst einmal verlockend, nach Sofortrente, nach Kreuzfahrt mit
goldenen Rolltreppen, ewig blauem Himmel, nach Orten, die so heißen wie die
Spielwelten von Candy Crush, da hat ja jeder seine eigenen Glückskulissen. 

Portland, sehr grün. Am Horizont der ewig schneebedeckte Mount Hood.

Portland, sehr grün. Am Horizont der ewig schneebedeckte Mount Hood.
© Leah Nash für ZEIT ONLINE

Jedenfalls: das gute Leben. In den
allgemeinen Geschäftsbedingungen der Existenz steht nirgends, wo man es findet.
Doch nach allem, was man über die Stadt Portland so hören und lesen konnte in
den vergangenen Jahren: Möglicherweise versteckt es sich ja hier.

Vieles spräche dafür! Mit der Literatur fängt’s an. Es war schon Raymond Carver, der schrieb: “Vielleicht sollte ich nach Portland gehen. Da muss etwas
in Portland sein.” 

Ja, was hat man denn
hier? 

Ein kompaktes Straßenschachbrett. Zwei
Flüsse, zwölf Brücken, vier Stadtteile, Nordwest, Nordost, Südwest, Südost,
Sonnenaufgang über den Bergen, Sonnenuntergang über dem Pazifik. 650.000
Einwohner, rapide steigend.

Portland hat eine hohe
Zuzugsrate junger Akademiker, viele aus dem Süden, wo es teurer ist, sie kommen
aus dem mittleren Westen, Lifestyleflüchtlinge aus Idaho oder Nebraska, sie
kommen aus New York. Und
in einem Tourismusindex, der die Reiseerfahrung in amerikanischen Städten
abfragt
, stand Portland vor ein paar Jahren auf dem ersten Platz. Vor Oahu
und Maui. Erst im Februar verkündete eine Lokalzeitung stolz, Portland
besitze die höchste Anzahl an sogenannten Airbnb-Superhosts
pro Einwohner.
Nicht nur in Amerika. Sondern auf der ganzen Welt.

Angeblich hat die Stadt mehr Marihuanaboutiquen als Kirchen.

Angeblich hat die Stadt mehr Marihuanaboutiquen als Kirchen.
© Leah Nash für ZEIT ONLINE

Und die Welt will in den
vergangenen Jahren häufiger in diesem Lebensgefühl marinieren, im anderen
Amerika, das man ein wenig vergessen hat, und sie will ein paar Tage irr
herumstolpern von Mikrobrauerei zu Mikrobrauerei, von Himbeer-Stout zu
Coffee-Ale, im “Beervana”, wie es hier sehr ernsthaft heißt, und sich
vielleicht von einem Angestellten der applestorehaften Marihuanaboutiquen
fragen lassen, ob man sich lieber in “kreative” oder “entspannte” Stimmung
rauchen wolle. Und die Welt möchte auch ihre Augen hernach erholen an der
klimabewussten, naturkindergartenartigen Idylle mit diesen vielen wilden
Vorgärten, die nie von Nagelscheren begradigt wurden.

Portland, gegründet von
Asa Lovejoy und Francis William Pettygrove, zwei Siedlern mit
Mount-Rushmore-Gesichtern, die sich im Jahr 1844 eine Holzhütte an einer
Kreuzung zimmerten. Ein Münzwurf entschied über den Namen der Stadt, beinahe
hätte sie Boston geheißen. Damals, im 19. Jahrhundert, schrieb der Oregonian,
die älteste und bis heute ehrwürdigste Zeitung der Region, Portland sei der
dreckigste Ort der Nordstaaten. Inzwischen, knapp anderthalb Jahrhunderte
später, steht
in der New York Times, Portland sei die “europäischste Stadt” der
USA
. Das klingt gleich viel freundlicher. Wobei: Europa, das ist ja schon
ein Unterschied, ob man Skandinavien meint oder das Sauerland. Wäre also die
Frage.

Man kann allerdings sich
besser fragen, ob die Stadtverwaltung hin und wieder ein paar Leute hierherschickt, mit Tarnmontur und hohen Leitern, damit sie ein paar Stunden lang
nachkolorieren, dort heimlich Extrazweige an die Bäume kleben und ob noch Bob Ross höchstpersönlich diesen Nebel über die Hügel gemalt hat.

Wer über
Portland spotten will, erzählt gern, es sei die Stadt der treehugger. Immerhin
wächst häufig Moos auf den Stämmen, was den Komfort erheblich steigert. Und
dann ist es doch so weit gekommen, und fast hätte man selbst probeweise einen
Baum umarmt. Sehr wahrscheinlich eine Douglasie, stattlicher Nationalbaum des
Staates Oregon, toller Baum, immergrün, allerdings außerhalb Oregons,
umstritten. Im gestrengen deutschen Baum-des-Jahres-Forum (Preisträger 2019:
die Flatter-Ulme) etwa fragen bereits Fichten- und Autobahnwaldpatrioten:
“Gehört die Douglasie nach Europa?”     

Und dann ist es doch so weit gekommen, und fast hätte man selbst probeweise einen Baum umarmt.

Eine der höchsten
Douglasien weit und breit steht im Forest Park, im Nordwesten, wo sich die Stadt
erst sanft, dann bald strenger hebt. Einer der größten Stadtwälder der USA,
heißt es, manche sagen sogar: der größte der Welt, kommt drauf an, wen man hier
fragt.    

In Portland ist
man sehr stolz auf diesen Ort, er ist nicht bloß Natur im Nebenberuf, sondern
zum Teil das Gelände, das schon John Muir beschrieben hat, Wildnisdichter des
amerikanischen Nordwestens, der in Oregons Wäldern herumgeisterte und bald
überall nur noch Bäume sah. Selbst in der Form des nahen Columbia Rivers
erkannte er eine “malerische Eiche”.

Man sieht sich
hier staunend um, ein wenig ungläubig, wer weiß, ob man in einer Rinde noch einen
Kreditkartenschlitz entdeckt, weil man am Ende doch für all das bezahlen müsse.
Für die Unterholzgeräusche, für hervortretendes Wurzelwerk, die Bäche, die
Aussicht auf Spechte, und für den Ahorn, der auf einen herabsieht, als sei man
etwas unter seinem Niveau. Für ein von Blättern und Stille abgedichtetes Leben.

Forest Park:
Fläche mehr als 2.000 Hektar, ein Gewirr aus 100 Meilen Wanderwegen, auf denen
man der Welt für eine Weile abhandenkommen kann. Denn darum ging es ja
spätestens seit dem 18. Jahrhundert, sobald der Mensch etwas betrat, was nur
ein wenig aussah wie hier. Wie hieß das noch bei Rousseau: In der Gesellschaft
sei der Mensch außer sich, in der Natur sei er bei sich. Die Natur als
philosophisches Naherlösungsgebiet, in das damals heftig erregte Jünglinge
aufbrachen, sich durchs Dickicht schlugen, auf Endmoränen kletterten, ein wenig
metaphyselten und dramatisch in die Ferne sahen, was hier ohne
geistig-moralischen Mehraufwand funktioniert.

Was sähen sie zum
Beispiel von der Anhöhe der ehrwürdigen Pittock Villa, wenn sie Forest Park
wieder verlassen: die Hochhäuser von Downtown Portland, die sich wie auf einem
bescheidenen Balkendiagramm nach oben schieben, die Brücken über dem Willamette River, dahinter dann, bei besserem Wetter, den ewig schneebedeckten Mount Hood
am Horizont. 

Vielleicht sind es
Träume, Vorstellungen des gelungenen Lebens, die es schon gab, ein Jahrhundert
bevor Portland überhaupt gegründet wurde, die sich hier auch erfüllen könnten.
Aus Zeiten, in denen Stadtbewohner obskure Schriften gelesen haben, die “Der
Eremit” oder “Der Einsiedler” hießen, und sich eine sentimentale Lust an der
Weltabkehr einstellte, der weite Teile der Gesellschaft verfielen, die nun das
Leben fern des städtischen Getändels anhimmelte, Hirten, Myrtenhecken,
Pomeranzenblüten, die da überall in der Kunst und der Dichtung sehnsüchtig
hingebreitet wurden. Man wollte aber weiterhin die Annehmlichkeiten der Stadt,
Weltflucht und Weltbejahung.

Aber das sollte
man wohl besser mit einem Philosophen klären. 

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