/“Eine moralische Entscheidung”: Kreislauf der Not

“Eine moralische Entscheidung”: Kreislauf der Not

Iranische Filme, in denen die Helden im Auto sitzen, bilden fast
schon ein eigenes Genre. Sei es der Altmeister Abbas Kiarostami (Ten),
sei es Jafar Panahi (Taxi Teheran),
der bis heute mit Berufsverbot belegt ist und trotzdem Filme
realisiert, seien es junge Undergroundfilmer: Viele nutzen diesen
geschützten und doch öffentlichen Raum, um Geschichten von ihrem Land zu
erzählen.

Auch Eine moralische Entscheidung von Vahid
Jalilvand spielt immer wieder im Wageninneren. Gerichtsmediziner Kaveh
(Amir Agha’ee) fährt abends nach Hause, leise surrt der Motor, das Auto
ist klimatisiert. Kaveh gehört zur Mittelschicht, ein engagierter,
integrer Arzt, der nebenbei misshandelten Frauen hilft.

Auf dem Nachhauseweg wird er unverschuldet in einen Unfall mit einer
vierköpfigen Familie auf einem Moped verwickelt. Schon die Fahrzeuge
markieren die soziale Kluft: Der Motorradfahrer Moosa (Navid
Mohammadzadeh) weiß kaum, wie er seine Familie ernähren soll, während
der achtjährige, leicht verletzte Sohn sich vom Komfort in Kavehs Wagen
beeindruckt zeigt. Der besorgte Arzt untersucht ihn, aber es scheint
alles in Ordnung zu sein. Entgegen seinem Rat lässt sich die Familie
jedoch nicht ins Krankenhaus bringen. Als der Junge später doch
eingeliefert wird, ist er tot. Als Ursache diagnostiziert Kavehs
Kollegin und Partnerin Sayeh (Hediyeh Tehrani) eine Fleischvergiftung.

Dass Kaveh den Unfall zunächst verschweigt, löst eine dramatische
Ereigniskette aus. Schuld und Verantwortung, Scham, Ehre und der
Teufelskreis der Armut: Eine moralische Entscheidung verhandelt
klassische Themen des iranischen Kinos. Kaveh wird von Gewissensbissen
geplagt, kann er doch den Unfall als Todesursache nicht ganz
ausschließen. Auch Moosa quält sich, denn er hat in seiner Not
Gammelfleisch von einem Hühnerfabrikarbeiter für die Familie gekauft.
Der Arbeiter tat dies vermutlich ebenfalls nur aus Not. Moosas Familie
zerbricht, seine Frau Leila (Zakiyeh Behbahani) hält ihn wegen des
Hühnchens für den Mörder ihres Kindes. Moosa sinnt auf Rache, landet im
Gefängnis, jetzt kämpft Leila für ihn. Und Kavehs Schuldgefühle schlagen
in übergriffigen Tatendrang um, was Sayeh mit scharfer Kritik
quittiert.

Ein Film voller
Nachtbilder. In der Wohnung stehen die Umzugskisten, eigentlich wollen
Sayeh und Kaveh zusammenziehen, aber nun sitzen sie im Auto und streiten
sich. Die kühle Pathologie, metallische Geräusche, kaum Farben, hundert
Varianten Grau: Jalilvand und sein Ko-Autor Ali Zarnegar erzählen
elliptisch, lassen den Helden eine gewisse Unschärfe, eine allzu
menschliche Unschlüssigkeit und Impulsivität. Das Ambiente hingegen ist
überdeutlich von Unwirtlichkeit gekennzeichnet. Die Klinik samt ihrer
enervierenden Bürokratie, der Schlachthof, Behördenflure, Betonmauern,
der Müll in Teheran – ständig wird signalisiert: Hier werden Menschen
vor allem verwaltet, Humanismus hat hier keinen Platz. “Die
Bestattungsgenehmigung bekommen Sie am Empfang,” wird Moosa nach der
Obduktion seines Jungen nüchtern informiert.

Eine politische Parabel? Soziales Gefälle, Verzweiflungstaten, selbstgerechte Männer und resolute Frauen gibt es nicht nur im Iran.
Der zweite Spielfilm des 1976 in Teheran geborenen Regisseurs, trägt
den Originaltitel No Date, No Signature. Keine Unterschrift: Es geht
nicht gut aus, wenn Menschen sich ihrer Verantwortung entziehen.

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