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Venedig-Biennale: Heiter bis wolkig

Wenn
irgendwo auf der Welt ein Flugzeug vom Himmel fällt, gilt der
international übliche “Brace”-Befehl: Das bedeutet, die Passagiere
werden vom Kapitän aufgefordert, eine Schutzhaltung einzunehmen, bei
der sie den Kopf auf ihre Knie senken. In den Arsenale-Hallen bei der
58. Biennale von Venedig sitzt nun eine riesige, aus abgelegten
Kleidern zusammengenähte Frauenfigur in eben jener “Brace-Position”
in einem gigantischen Flugzeugsessel. Das Werk der chinesischen
Künstlerin Yin Xiuzhen ist symbolhaft für diese Biennale zu
verstehen, die der Wucht globaler
Desaster entgegensieht, ohne den menschlichen Impuls des Wegduckens
zu verneinen.
Wer hofft nicht insgeheim, am Ende heil aus der Sache herauszukommen?
Das gilt wohl auch für Kurator Ralph Rugoff, dem bei seiner so
elegant wie zeitgemäß wirkenden Biennale
ein fataler Fehler ausgerechnet in jenem Moment unterläuft, als er
sich mit Menschen beschäftigt, die nicht fliegen dürfen, sondern
auf gefährlichere Weise reisen: Beim Bassin des Arsenale bietet
Rugoff dem Künstler Christoph Büchel die Gelegenheit, das Wrack
eines realen, 2015 gesunkenen Flüchtlingsboots zu präsentieren. Ein
Werk, das die Biennale überschattet. Über das man streiten kann –
und muss. Doch mehr dazu später.

Büchels Barca Nostra ist auf dieser Biennale insofern eine Anomalie, als
Rugoff im Vorfeld erklärt hatte, die Kunst eben gerade nicht zum
Erfüllungsgehilfen der Politik machen zu wollen. Der gebürtige New
Yorker und heutige Direktor der Hayward Gallery in London hat
stattdessen über weiteste Strecken eine Ausstellung geschaffen, die
sehr geschickt für politische Fragen sensibilisiert, ohne groß mit
Theorie zu quälen. Trotz aller drängenden Probleme dieser Welt: So
viel Unterhaltung hat sich lange keine Großausstellung in Venedig
oder Kassel mehr zugetraut, und da diese Biennale auch ein paar sehr
starke Länderpavillons versammelt, empfiehlt sich die Reise an die
Lagune in diesem Jahr unbedingt.


Venedig-Biennale: Dieser Artikel stammt aus Weltkunst Heft Nr. 158/2019

Dieser Artikel stammt aus Weltkunst Heft Nr. 158/2019.
© Weltkunst Verlag

Rugoffs
zweiteilige Ausstellung May You Live In Interesting Times beginnt
allerdings mit der Geste der Negation: In den ­Giardini verhüllt
die Italienerin Lara Fava­retto den Eingang zum Zentralpavillon
mit einer Wolke weißen Wasserdampfs. Und im Arsenale wird man
bereits im zweiten Raum mit der Filmcollage 48 War Movies von
Christian Marclay konfrontiert. Der amerikanische Medienkünstler hat
zu einem kako­fonischen Soundtrack 48 Ausschnitte von
Kriegsfilmen so übereinandermontiert, dass von jedem Streifen nur
ein schmaler Bildrahmen zu sehen ist, der keine erkennbaren
Informationen mehr enthält. Favarettos und Marclays Werke wirken als
sensorische Tabula rasa. Schockmomente, die gezielt eingesetzt
werden, um den Blick zu klären für die nachfolgenden Räume und
Themen.

Denn
diese Biennale ist mit Bedacht kuratiert: Im Hauptraum des
Zentralpavillons stößt eine Mauer mit Einschusslöchern – von
Teresa Margolles aus der von Drogenkriegen geplagten mexikanischen
Grenzstadt Ciudad Juárez mitgebracht – auf einen nicht minder
gruseligen Industrieroboter, der mit einem Wischarm beständig eine
blutähnliche Flüssigkeit hin und her schiebt. Die chinesischen
Künstler Sun Yuan und Peng Yu verdammen den futuristischen
Tatortreiniger mithilfe ­automatischer Sensoren und eines
perfiden Logarithmus dazu, seine Sisyphusarbeit zu verrichten. Von
den Wänden starren derweil die aufgerissenen Augen und Münder
einiger Horror-Holzschnitt-Hybride, die Christian Marclay halb aus
japanischen Mangas und halb aus amerikanischen Comics
zusammenmontiert hat. (Rugoff zeigt übrigens alle 79
Biennale-Künstler an beiden Standorten mit jeweils unterschiedlichen
Werken.) Marclays Bilderserie Scream von 2018/2019 bietet auch
den interpretativen Schlüssel zu diesem Raum, der wie ein lauter
Schrei der Verzweiflung über die Endlosigkeit von Gewalt und Krieg
im Bewusstsein nachhallt.

Ein
Stockwerk darüber wird es leiser, wenn auch nicht weniger abgründig:
George Condos monumentales Gemälde Facebook aus den Jahren
2017/2018 eröffnet mit seinem weiß-schwarz-roten Fratzengewitter
den Blick in ein dystopisches Social-Media-Universum voller
Hasskommentare. Aber was bitte hat das mit dem Bild Another Wrong
(2013) des amerikanischen Malers Henry Taylor zu tun, in dem ein
weißer Mann von der Polizei in Handschellen aus dem Herrenhaus einer
Südstaaten-Plantage geführt wird? Die beiden Gemälde hängen
einander direkt gegenüber, und man rätselt eine Weile – bis man
begreift, worum es hier geht: Der weiße Condo (Jahrgang 1957) wird
heute zu Recht als Malerstar gefeiert und der schwarze ­Taylor
(Jahrgang 1958) zu Unrecht nicht.

Schwarze
künstlerische Selbstrepräsentation ist jedoch in den vergangenen
Jahren zu einem wichtigen Thema in der Kunstwelt geworden, und Rugoff
greift das an prominenter Stelle mit Gemälden von Njideka Akunyili
Crosby, Fotos von Zanele Muholi oder TV-News-Collagen von Kahlil
Joseph auf. Die Ehrung mit einem Goldenen Löwen als bester Künstler
der Hauptschau, die Arthur Jafa erhalten hat, signalisiert die
überfällige Anerkennung der afroamerikanischen und afrikanischen
Kunst. Der Regisseur aus Los Angeles hat sie für seinen Film The
White ­Album (2019) bekommen, in dem er den Zustand des
“Weiß-Seins” als bizarres Syndrom untersucht – kulturell
angesiedelt irgendwo zwischen einem digital-animierten, singenden
Iggy Pop und rassistischen Amokläufen.

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