/Multilateralismus: Die radikale Eigendynamik von Politik und Wirtschaft

Multilateralismus: Die radikale Eigendynamik von Politik und Wirtschaft

Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Universität München und Herausgeber
des Kursbuchs. Seine Forschungsgebiete liegen im Bereich Kultursoziologie, Wissenssoziologie und politische Soziologie. Er hat zahlreiche Publikationen dazu vorgelegt.

Macht
man sich Gedanken über Demokratie und Kapitalismus, geht es meist nur um die
Frage, welcher Seite dieses Begriffspaars man mehr Gewicht zumessen möchte. Es
scheint nur die Wahl zu bestehen zwischen einer marktkonformen Demokratie oder demokratiekonformen
Märkten. Diese Alternative spielt sich allein auf der Ebene der politischen
Programme ab. Es ist eine Wahl zwischen mehr oder weniger Regulierung, mehr
oder weniger Umverteilung, mehr oder weniger Steuerung.

Konflikte,
die auf solchen Begriffsalternativen aufbauen, haben tatsächlich den Vorteil
geordneter Verhältnisse – aber sie sind auch relativ unfruchtbar, weil sie in
ihren eigenen Unterscheidungen gefangen sind. Zumindest suggerieren sie ein instrumentelles
Verhältnis zum Problem und seiner Lösbarkeit und begründen die üblichen
verdächtigen Politikprogramme sozialdemokratischer, liberaler oder
konservativer Natur, deren Trennschärfe derzeit ohnehin eher unter Druck steht.

Tritt
man einen Schritt zurück, eröffnen sich andere Sichtachsen. Womöglich besteht der
Konflikt gar nicht zwischen Demokratie und Markt, sondern viel grundsätzlicher zwischen
Politik und Ökonomie. Das ist ein erheblicher Unterschied. Die moderne
Gesellschaft muss man sich als ein System vorstellen, das nicht aus einem Guss
ist, sondern das intern in unterschiedliche Logiken zerfällt, die je
unterschiedliche Probleme lösen. Das ist soziologisch fast eine
Selbstverständlichkeit – aber selbst die sozialwissenschaftliche Intelligenz
schreckt vor den Konsequenzen dieses Gedankens zurück und beteiligt sich lieber
an der politisch-programmatischen Alternative zwischen Demokratie und Markt in
Form von Kapitalismuskritik.

Einkommen gegen Massenloyalität

Die
Dynamik, die Schnelligkeit, die Unübersichtlichkeit, der Erfindungsreichtum,
aber auch das stets Krisenhafte der Moderne stammt gerade aus der logischen
Entkoppelung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche. Politik und
Wirtschaft, daneben auch Recht, Wissenschaft, Erziehung, Religion und Medien
haben je unterschiedliche Erfolgskriterien. Warum man auch immer wirtschaftet,
zu welchem Behufe und mit welchem Ziel – am Ende ist alles wirtschaftliche
Handeln brutal darauf festgelegt, dass das Verhältnis von zahlendem Input und
zahlendem Output weitere Marktteilnahme ermöglicht. Und ebenso brutal ist
politisches Handeln daran gebunden, Machtchancen zu testen, Mehrheiten zu
erzeugen und auch durchzusetzen.

Variabel
sind die jeweiligen Mittel: Sie reichen in der Politik von der Gleichschaltung
der Gesellschaft in Diktaturen bis zur parlamentarischen deliberativen
Demokratie und in der Ökonomie von einer vollständig deregulierten liberalen
Wirtschaftsform bis zu einem Ordnungsmodell, das ökonomisches Handeln
langfristig gesellschaftlich einbettet. Variabel ist in diesem Sinne eben auch
das Verhältnis der unterschiedlichen Logiken zueinander.

Die
westliche industriegesellschaftliche Erfahrung, die uns fast wie ein Normalfall
vorkommt, hat die Brutalität der Differenz zwischen den gesellschaftlichen
Logiken geradezu verdeckt. Es ist diesem Modell stabiler und potenter
Nationalstaaten gelungen, nach den Erfahrungen aus den Katastrophen des 20.
Jahrhunderts ein Institutionenarrangement zu etablieren, das die Radikalität
der ausdifferenzierten Moderne abgemildert hat. Die Kombination potenter
Industrien mit entsprechenden Austauschprozessen von Einkommen gegen
Massenloyalität, demokratischem Interessenausgleich gegen stabile Lebensformen
und sozialem Aufstieg für breite Gruppen der Bevölkerung, liberale Kultur gegen
sanktionsbewehrte Rechtssicherheit hat diesem “Goldenen Zeitalter” (Eric
Hobsbawm
) seine Potenz verliehen.

Dieses
Institutionenarrangement hat gerade in der Bundesrepublik starke korporative
Akteure hervorgebracht, die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die staatlich
organisierte Daseinsvorsorge, das flächendeckende Bildungssystem und zentrale
Akteure in der Wohlfahrtspflege, nicht zuletzt die beiden großen Kirchen. Dieses
Arrangement suggerierte ein Bild einer domestizierten Gesellschaft mit “sozialer
Marktwirtschaft
” und multilateralem Demokratiemodell.

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