/Fahrgastrechte: Keine Entschädigung bei höherer Gewalt

Fahrgastrechte: Keine Entschädigung bei höherer Gewalt

Als Michael Cramer anruft, geht seine Stimme erst Mal in
einer scheppernden Lautsprecherdurchsage unter. Am Bahnsteig werden Verspätungen angekündigt. Für seine
Rückreise nach Berlin wird der EU-Parlamentarier der Grünen wohl etwas länger
brauchen.

Die Episode wirkt wie bestellt. 2007 hat Cramer im
EU-Parlament zusammen mit anderen Verkehrsexperten durchgesetzt, dass Fahrgäste in ganz Europa bei Verspätungen von über einer Stunde einen Teil
der Fahrtkosten erstattet bekommen. Sein größter Erfolg. Doch nun, wo der
70-Jährige das EU-Parlament nach 15 Jahren bald verlässt, werden die
Entschädigungen in ihrer bisherigen Form infrage gestellt.

Wenn ein Zug wegen höherer Gewalt – also wegen Unwettern oder auch
Streiks – zu spät kommt, sollen Bahnunternehmen künftig nicht mehr zahlen müssen,
hat die EU-Kommission vorgeschlagen. Die rumänische EU-Ratspräsidentschaft hat
die Idee übernommen. Während Cramer Anfang Juni in seine Heimat Berlin
fährt, verhandeln deshalb in Luxemburg die Verkehrsminister der EU über eine
Reform der EU-Fahrgastrechte für Bahnkunden. Die neue Ausnahme bei höherer
Gewalt sei unumstritten, zitieren die Nachrichtenagenturen dpa und AFP Diplomaten.  

“Für Ryanair war irgendwann alles höhere Gewalt”

Michael Cramer macht das wütend. “Wie kommen die
EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten dazu, die höhere Gewalt auf die
Passagiere zu schieben?”, fragt er. Und ob die Kommission nicht aus der
Erfahrung mit Ryanair gelernt habe. “Für Ryanair war irgendwann alles höhere
Gewalt”, sagt Cramer.

Dass Fluggesellschaften bei höherer Gewalt keine
Entschädigungen zahlen müssen, ist der Hauptgrund, warum die Kommission nun
auch die Bahngesellschaften davon befreien will. Die Reform soll dem fairen
Wettbewerb dienen. Ähnlich sehen das natürlich auch die meisten Bahnunternehmen
in Europa. Die Deutsche Bahn kommentiere aktuelle Gesetzgebungsverfahren nicht,
sagt ein Sprecher. Aber grundsätzlich plädiere man immer für Chancengleichheit
zwischen den Verkehrsträgern. Cramer fordert dagegen eine Anpassung nach oben:
Zukünftig sollten eben auch die Fluggesellschaften bei höherer Gewalt zahlen,
findet er.

“Airlines und Bahnunternehmen, das ist wie Äpfel mit Birnen
zu vergleichen”, sagt jedoch Marion Jungbluth vom Bundesverband der Verbraucherzentralen. Denn die Entschädigungssysteme unterschieden sich
erheblich. Flugpassagierinnen erhalten bei Verspätungen von über drei Stunden
oder Flugausfällen pauschale Beträge. 200 Euro sind es auf der Kurzstrecke bis
1.500 Kilometer, 400 Euro auf der Mittelstrecke bis 3.500 Kilometer und 600 Euro
auf der Langstrecke. 

Die Deutsche Bahn kontrolliert auch das Netz, auf dem sie fährt

Diese Summen würden die Ticketpreise oft deutlich
übersteigen, sagt Jungbluth. Es handle sich also um echte Entschädigungen, die
Unannehmlichkeiten ausgleichen sollen. Wegen der hohen Beträge und weil die
Fluggesellschaften die Abfertigung an den Airports und die Fluglotsenüberwachung
nicht kontrollieren könnten, sei es vertretbar, dass die Fluggesellschaften bei
höherer Gewalt nicht zahlen müssten, sagt Jungbluth.

Bahnunternehmen müssen dagegen immer nur einen Teil des
Fahrpreises erstatten. 25 Prozent sind es bei einer Stunde Verspätung und 50
Prozent ab zwei Stunden Verspätung. Außerdem kontrollieren viele
Bahngesellschaften in Europa, wie etwa die Deutsche Bahn, auch das Netz, auf dem sie fahren. Sie haben
mehr Kontrolle über die gesamte Reisekette. Jungbluth hält es deshalb für
angemessen, “dass die Bahn auch bei Unwetter einen Teil des Fahrpreises
erstattet”.

Eine Reform würde Verbraucherinnen stark schaden, ist Jungbluth
überzeugt. “Es ist der große Vorteil der Bahn, dass sich die Kunden darauf
verlassen können, im Schadensfall Erstattungen schnell rechtssicher geltend
machen zu können.” Käme dagegen die Schutzklausel für höhere Gewalt, würden die
Unternehmen versuchen, Fälle in diese Ecke zu drängen, die da nicht hingehörten.
“Und wie sollen Sie als Fahrgast beweisen, dass keine höhere Gewalt vorlag.”
Insbesondere bei Sturmschäden fürchtet Jungbluth Missbrauch. Wenn bei Sturm
Bäume auf die Schienen fallen, liege das auch daran, dass die
Verkehrsunternehmen beim Baumschnitt versagt haben, erklärt die
Verbraucherschützerin.

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