Im Mai gewann der politisch bis dahin völlig unbekannte Wolodymyr Selenskyj die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine. Die Probleme, die er erbt, sind groß: Im Osten des Landes herrscht noch immer Krieg, Politik und Wirtschaft sind durchzogen von Korruption. Auch bei der Parlamentswahl könnte Selenskyjs neue Partei triumphieren. Am Montag war Selenskyj zum Staatsbesuch in Berlin. Was ist von dem gelernten Schauspieler zu erwarten, fragt sich auch Marieluise Beck, langjährige Bundestagsabgeordnete der Grünen, und Russland-Kennerin.
Der neue Präsident der Ukraine ist eine Black Box, scheinbar aus dem politischen Nichts via Showbusiness ins Zentrum der Macht katapultiert. Ein Kandidat, der sich den Medien ansonsten verweigerte, der keine Journalistenfragen beantwortete, der nicht offenlegte, was ihn umtreibt und wo er hinwill. Ein Populist neuen Typs – er trat nicht auf, um zu spalten, sondern um zu versöhnen. Dass Wolodymyr Selenskyj ohne Umschweife Russisch sprach, während das Land versucht, das Ukrainische als Nationalsprache wiederzubeleben, war eine kluge Geste. Dass er seine jüdische Herkunft nicht verbarg, aber auch nicht zum Thema machte, war eher sympathisch. Dass er jung und unverbraucht daherkam, gefiel den Menschen, die das “Establishment” satthaben.
Poroschenkos durchwachsene Bilanz: Die Ukraine will mehr
Sein Konkurrent hatte schlechtere Karten. Poroschenko blieb dem Alten in vielem verhaftet. Er verkaufte seine Unternehmen nicht, wie vor der Wahl versprochen. Junge Minister, die das Land reformieren wollten, verließen entnervt das Kabinett. Der von ihm eingesetzte Generalstaatsanwalt – einst der prominenteste politische Häftling neben Julija Tymoschenko – schonte immer offensichtlicher die Großen. Ohne den Druck von G7, IWF und der EU kamen Reformen nur zögerlich voran. Der Krieg belastet das Land und die Transformation eines industriellen Dinosauriers ist schmerzhaft.
Und dennoch: Die größte Geldquelle für Korruption, der Energiesektor, wurde unter Poroschenko umgebaut. 80 marode Banken wurden geschlossen, der Bildungssektor unternahm erste Schritte zur Überwindung eines autoritären Erziehungswesens, die nur scheinbar kostenlose Gesundheitsversorgung wurde modernisiert. Es gab Versuche, die Zivilgesellschaft einzuschränken, aber letztlich blieb das wichtigste Gut des Maidan erhalten: eine lebendige Bürgergesellschaft, eine freie Presse und freies Internet.
Eine durchwachsene Bilanz, könnte man sagen. Poroschenko ein Garant für Stabilität. Aber die Ukraine wollte mehr. Sie wollte einen Aufbruch, einen weiteren Aufbruch sollte man sagen. Manche hier nennen die Wahl des Neuen einen dritten Maidan – einen Maidan an der Wahlurne.
Selenskyjs Personalpolitik riecht nach Vetternwirtschaft
Selenskyj hat die ersten Schritte gemacht. Der neue Präsident kam zu Fuß in die Rada, das Parlament in Kiew. Keine großräumig abgesperrten Straßen wie in Moskau, wenn Wladimir Putin durch menschenleere Straßen geschleust wird. Mehr noch: Wer heute in den Amtssitz des Präsidenten will, trifft nicht mehr auf Absperrungen und Passkontrollen. Der Zugang ist für Bürgerinnen und Bürger frei. Ein Präsident ohne Barrieren und mit hochgekrempelten Ärmeln. Das ist bürgernah. Das kommt gut an. Keinen Zweifel ließ der neue Präsident an der EU-Orientierung des Landes. Aber die Erinnerung an Präsident Janukowitsch, der jahrelang das EU-Assoziationsabkommen verhandelt, um es nach einem Rapport in Moskau platzen zu lassen, sitzt tief.
Dazu kommt die Komponente Kolomojskyj. Ein Oligarch, der entscheidend dazu beitrug, die Industriestadt Dnipro gegen den russischen Vorstoß zu verteidigen, wohl nicht nur aus edlen Motiven. Es ging auch darum, seine Pfründe und den Abfluss seines zusammengerafften Reichtums in den Westen zu sichern. Ein Kolomojskyj, das ahnt hier jeder, steht für maximale Bereicherung. Eine Zivilklage in den USA geht von der sagenhaften Summe von 480 Milliarden Dollar aus, die gewaschen und außer Landes gebracht wurden: Wen wundern da noch kaputte Straßen und der chronische Mangel an Investitionen im Land. Der Kandidat Selenskyj zeigte seine berühmte Serie Diener des Volkes, die ein verkappter Wahlkampf war, im Kolomojskyj-Fernsehen. Und dieser kehrte nach der Wahl flugs aus dem Exil zurück: Hatte ihm da ein neuer Präsident Sicherheit versprochen?
Und Russland? Zwar gab es nicht einmal ein Angebot, die gekaperten Seeleute freizulassen, auch sonst kein Zeichen einer Annäherung. Aber das könnte sich ändern. Das künftige Verhältnis des Präsidenten zum Kreml muss sich erst noch herausstellen.
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