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“Chernobyl”: Der Hype überstrahlt alles

Prypjat
brummt. Das gilt seit 33 Jahren im übertragenen Sinne: Noch immer können in der
einstigen 50.000-Menschen-Siedlung, die sich vier Kilometer nordwestlich des
Atomkraftwerks Tschernobyl befindet, hohe radioaktive Strahlenbelastungen
gemessen werden. Es gilt aber auch für den Katastrophentourismus in der heutigen
Geisterstadt. Immer mehr Menschen reisen nach Prypjat, ins Herz jener
Sperrzone, die um den explodierten vierten Reaktor des Kraftwerks errichtet
wurde. Dort nehmen sie lustige Selfies auf, sexy Selfies und manchmal auch
lustige sexy Selfies. Wo eigentlich nichts mehr wachsen dürfte, ist in den
letzten Wochen ein neuer Instagram-Hotspot aus dem Boden geschossen.

Schuld
daran ist zumindest indirekt die Fernsehserie Chernobyl. Das anfangs nur
zurückhaltend beworbene Projekt von Sky und HBO hat sich zu einem der größten
TV-Ereignisse des Jahres entwickelt. Ein offizieller Podcast begleitet die
Show, viele weitere beschäftigen sich mit ihr. Die User der Film- und
Fernsehdatenbank IMDb
halten Chernobyl schon jetzt für die beste
TV-Serie aller Zeiten, noch vor Breaking Bad oder den Sopranos.
9,6 Durchschnittspunkte, basierend auf 250.000 Stimmen. Eher bescheiden wirken
dagegen die wenigen Historikerinnen und Fernsehkritiker, die auf den
tendenziösen Umgang der Serie mit ihrer künstlerischen Freiheit hinweisen. Der
Hype überstrahlt sie einfach.

Also tun
die Menschen, was Menschen eben tun: Sie kreuzen auf und schießen Fotos. Als
lautester Kritiker dieser Kulturpraktik tritt seit kurzer Zeit Craig Mazin in
Erscheinung. Bevor er die Drehbücher zu Chernobyl schrieb, war der
Endvierziger aus New York als Autor von Komödien wie Scary Movie III, Scary
Movie IV
, The Hangover Part II und The Hangover Part III zu
eher zweifelhaftem Ruhm gelangt. Nun scheint er die Beschädigung seines
Prestigeprojekts im ukrainischen wasteland zu fürchten und bittet
Katastrophentouristen deshalb um respektvollen Umgang mit umgestürzten Bussen,
verlassenen Vergnügungsparks und dem eigenen Smartphone. Die Sache könnte sich
sonst in nicht vorgesehene Richtungen entwickeln.

Mazins
Sorge entbehrt nicht einer gewissen Komik. Seine Vorstellung von Chernobyl
entwickelt sich schließlich schon während ihrer Auftaktsequenz in nicht
vorgesehene Richtungen. Die Serie beginnt mit dem Suizid ihres Helden Valery Legasov
(Jared Harris) im April 1988, exakt zwei Jahre nach der Katastrophe von
Tschernobyl, für deren Aufarbeitung der Chemiker zuständig war. Der direkte
Zusammenhang, den Mazin und sein Regisseur Johan Renck zwischen den Ereignissen
in Tschernobyl, den Abwiegelungsmanövern aus Moskau und dem Tod des
Wissenschaftlers herstellen, markiert die erste von vielen Suggestionen, deren sich die Serienmacher bedienen.

Daran
ist zunächst einmal nichts auszusetzen. Chernobyl ist ein
außergewöhnlich guter TV-Thriller, ausgestattet mit einer Detailverliebtheit,
die sich von Kleidung und Frisuren vieler Charaktere über die unfreiwillig
ulkige Arbeitskleidung des Kraftwerkpersonals bis zu den korrekten Vorhängen
erstreckt, die in den Fenstern der Plattenbauten von Prypjat hängen. Manchmal
hält jemand ein Gewehr falsch, und Menschen tragen Uniformen, die eigentlich
nur zu besonderen Anlässen üblich waren. Selbst jene Zeitzeugen, die auf
Twitter von solchen Fehlern berichten, zeigen sich jedoch insgesamt überzeugt
von der akkuraten Darstellung des sowjetischen Lebens im Jahr 1986.

Noch
besser vermitteln Mazin und Renck aber jene Dinge an ihr Publikum, die
nichts mit Make-up, Kostümen oder Requisiten zu tun haben. Wie zuletzt schon
das Glyphosat-Drama Giftige Saat findet auch Chernobyl Mittel,
die unsichtbare Bedrohung, die riesige Strahlenbelastung am Ort der
Kraftwerksexplosion, nachvollziehbar zu machen. Sie zeigt sich weniger in den
feuerroten Gesichtern der Ersthelfer als in der Hilflosigkeit und Langsamkeit
ihrer Bewegungen, im Plätschern des Reaktorwassers oder den hysterischen
Ausschlägen eines Geräts zur Strahlenmessung. Vor allem letzteres wird als
neues Schreckensgeräusch in die Fernsehgeschichte eingehen.

Die
eindringlichsten Szenen aus Chernobyl spielen sich jedoch weit entfernt
vom Ort des Unfalls ab, in den Krankenhäusern von Moskau und Kiew, wo
unmittelbar betroffene Opfer behandelt und vernommen werden. Seit beinahe 100
Jahren stapfen Zombies über Kinoleinwände und Fernsehbildschirme. Inzwischen
können sie auch rennen und springen und manchmal sogar denken. Nichts jedoch
könnte Furcht einflößender sein als jene lebenden Leichen, die in Chernobyl
einfach nur daliegen und den Tod erwarten. Schon wenige Tage nach der
Reaktorexplosion hat sich ihr Zellgewebe nahezu vollständig aufgelöst. Als sie
endlich sterben, sind ihre Gesichter
längst verschwunden.

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