/Chancengleichheit: “Menschen aus prekären Verhältnissen sind für Unternehmen Gold wert”

Chancengleichheit: “Menschen aus prekären Verhältnissen sind für Unternehmen Gold wert”

In welcher Familie man aufwächst, beeinflusst in
Deutschland stark den Berufsweg. Kinder von Akademikern studieren in Deutschland
dreimal so oft wie Kinder aus Arbeiterfamilien.
Das zeigt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung.
Natalya Nepomnyashcha will das ändern. 2016 hat sie ein Netzwerk gegründet, das Jugendliche aus bildungsfernen Familien unterstützt.

ZEIT ONLINE: Sie sind in den
Neunzigerjahren aus Kiew nach Bayern gekommen, Ihre Eltern sind seitdem
arbeitslos und beziehen Hartz IV. Trotzdem haben Sie in kürzester Zeit Deutsch
gelernt, einen Master im Ausland gemacht, arbeiten jetzt in Vollzeit als PR-Beraterin und
sind nebenbei Gründerin – mit 29 Jahren. Wie ist Ihnen das gelungen?

Natalya Nepomnyashcha: Ich bin ein
Sonderfall. Dass ich bis hierhin gekommen bin, war harte Arbeit. Schaffen
konnte ich das nur, weil ich schon immer besonders ehrgeizig gewesen bin. Aber
diesen Willen und die Durchsetzungskraft haben nicht alle, und das dürfen wir
auch nicht erwarten. Denn in welchen Familien wir aufwachsen, bedingt sehr
wohl, wie unser Berufsleben später aussieht: Ob unsere Eltern Arbeiterinnen sind,
arbeitslos oder eben Akademiker, beeinflusst, mit welchem Bild von Arbeit wir
aufwachsen und welche Chancen wir im Berufsleben bekommen.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Nepomnyashcha: Das fängt schon in der
Schule und bei der Studienwahl an. Eltern, die als Ärzte oder Rechtsanwältinnen arbeiten,
können ihren Kindern bei der Wahl des
richtigen Studiengangs helfen. Immerhin haben sie eine ähnliche Laufbahn
durchlebt und verfügen im besten Fall über berufliche Kontakte, die sie dem
Nachwuchs mitgeben können.
Den Vorteil haben Kinder aus prekären Verhältnissen oft nicht: Viele Eltern können zum Beispiel nicht bei den
Hausaufgaben helfen, sprechen die Sprache nicht, die im Unterricht gesprochen
wird, und kennen vielleicht das deutsche Bildungssystem nicht so gut. Dadurch
sind sie bei der Wahl des weiteren Berufsweges oder des Studienplatzes keine
große Hilfe und wissen selbst nicht, was das Beste für ihre Kinder ist.

ZEIT ONLINE: Aber Nachhilfeunterricht
oder die Lehrerinnen in der Schule können doch helfen.

Nepomnyashcha: Theoretisch ist das
eine gute Idee, aber praktisch schwer umzusetzen. Denn sogenannte bildungsferne
Haushalte sind in vielen Fällen auch finanzschwach. Das heißt, es gibt kein
Geld, um dem Nachwuchs die Nachhilfe zu bezahlen. Außerdem belegen Studien,
dass es nicht von der Intelligenz eines Kindes abhängt, auf welche weiterführende Schule es geschickt wird. Die schulische Beurteilung hängt oft
vom Elternhaus ab und auch Lehrerinnen und Lehrer sind nur Menschen und bringen
bestimmte, gar nicht böse
gemeinte Vorurteile mit. Damit haben die Kinder oft zu kämpfen und bekommen
manchmal eine schlechtere Empfehlung, obwohl sie die Chance bekommen sollten,
aufs Gymnasium zu gehen – und sich damit ganz andere berufliche Möglichkeiten auftun.

ZEIT ONLINE: Nehmen wir an, mit der
schulischen Laufbahn hätte alles geklappt und das Kind hat sich für ein Studium
entschieden. Gibt es Komplikationen beim Berufseinstieg?

Nepomnyashcha: Es fängt doch schon
damit an, welche Stellen man überhaupt sucht und findet. Schließlich ist
Netzwerken immer noch das A und O im Berufsleben. Beim Berufseinstieg haben
Menschen aus prekären Verhältnissen niemanden, der sie weiterempfiehlt. Nach
wie vor werden aber viele Jobs über Beziehungen vergeben, deswegen gehen sie
leer aus. Für viele Berufe braucht man vorab auch schon praktische Erfahrung.
Wenn einem niemand erklärt, wie man an die richtigen Praktika kommt und dass
man das Praktikum vielleicht bei dem Anwaltsfreund der Familie machen könnte, ist man im Nachteil. Und woher
soll man wissen, wie viel Gehalt man fordert, wenn einem das vorher niemand
gesagt hat? Dazu kommen fehlende finanzielle Mittel. Wenn man als Tochter von
Langzeitarbeitslosen aufwächst, reicht das Geld nicht für das nächste
unbezahlte Praktikum.

ZEIT ONLINE: Wie geht es weiter?

Nepomnyashcha: Menschen aus sozial
benachteiligten Verhältnissen bekommen nur mit sehr viel mehr Anstrengung als
ihre Konkurrentinnen und Konkurrenten einen Job. Meine Behauptung ist, dass
Menschen aus sozial benachteiligten Verhältnissen bei gleicher Qualifikation
häufig schlechtere Arbeitsplätze bekommen. Das liegt nicht daran, dass sie
weniger interessiert sind, sondern dass sie sich jede Information viel härter
erarbeiten müssen.

ZEIT ONLINE: Trotzdem behaupten Sie,
dass die Tochter einer Reinigungskraft oder der Sohn eines Arbeitslosen
eigentlich die besseren Arbeitskräfte seien. Wieso?

Nepomnyashcha: Momentan verbindet man
mit sozialer Herkunft noch Brennpunktschulen, mit denen man lieber nichts zu
tun haben möchte.
Aber Menschen aus prekären Verhältnissen sind für Unternehmen Gold wert, denn
es gibt ein paar Sachen, die sie anderen voraus haben: Sie lernen als
Heranwachsende, dass man sich anstrengen muss, wenn man beruflichen Erfolg
anstrebt. Sie arbeiten sehr hart, um ihre Ideen umzusetzen. Und außerdem sind
sie besonders durchsetzungsstark: Wer
nur eine Realschulempfehlung bekommt und sich trotzdem auf dem Gymnasium
behauptet, ist abgehärtet und lernt, sich gegen äußere Widerstände
durchzusetzen.

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