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Radfahren: Neben der Spur

Noch nie waren so viele Leute mit dem Fahrrad unterwegs, vor allem in den Städten. Das Rad gilt als das beste Verkehrsmittel überhaupt, obwohl es eine Erfindung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist, die hinsichtlich Komfort und Sicherheit nie entscheidend weiterentwickelt wurde: Auf dem Rad wird man bei Regen nass, friert im Winter und kann sich schon bei leichten Stürzen schwer verletzen.

Selbst Großstädte möchten Fahrradstädte werden, weil sie weniger Autos wollen, München ebenso wie Hamburg und Berlin. In der Hauptstadt hat der rot-rot-grüne Senat voriges Jahr ein “Mobilitätsgesetz” beschlossen, dem zufolge Radfahrer nun auf wichtigen Straßen Vorrang vor den Autos haben. Eine deutsche Revolution.

Aber lassen sich Großstädte überhaupt zu Fahrradstädten umbauen? Hilft Radfahren tatsächlich, Verkehrsprobleme zu lösen? In welche Gefahr begeben sich Radfahrer, die so viel schlechter geschützt sind als Autofahrer? Ist die schöne neue Fahrradwelt eine Fantasie, die bald an der Wirklichkeit zerbrechen wird? Die Suche nach Antworten beginnt dort, wo in Deutschland die Visionen am ehrgeizigsten sind – in Berlin.

Horst Wohlfarth von Alm sitzt in einem kargen Büro bei der Verkehrsverwaltung. Er leitet das Referat für Straßenplanung, ein 60-Jähriger in einem grauen Jackett, der das große Ganze im Blick hat. Wohlfarth von Alm betrachtet Autos und Fahrräder nicht einfach als zwei Verkehrsmittel, die man, je nach Situation, beide gern mal benutzt. Er sagt: “Wir müssen die Berliner dazu bringen, auf ihr Auto zu verzichten, weil der Platz immer knapper wird. Dafür tun wir alles.”

Neben ihm sitzt Peter Feldkamp, 37. Er hat für einen Verein gearbeitet, der einen “Volksentscheid Fahrrad” organisieren wollte. Der war dann nicht nötig, weil die Stadt die Forderungen in ihr Gesetz übernahm. Beim Senat leitet Feldkamp die “Koordinierungsstelle Radverkehr”, er ist einem Staatssekretär zugeordnet, also ganz nah an der Macht. Für ihn ist die Hinwendung zum Radfahren eine “natürliche Entwicklung”, er sagt: “Immer mehr Leute fahren Rad, weil sie das eben gut finden.” Wohlfarth von Alm fügt hinzu: “Wer im Zentrum wohnt, will sich auch mal auf der Straße aufhalten können. Wir wollen die Straße als Lebensraum zurückgewinnen.”

Der Radverkehr, seit der Jahrtausendwende in Berlin um die Hälfte gewachsen, soll noch mal um die Hälfte zulegen – in welchem Zeitraum genau, sagen die Planer nicht. Um das Ziel zu erreichen, soll laut Gesetz an jede Hauptverkehrsstraße ein Radweg gebaut werden, also an 1600 Kilometer Straße. Dort gibt es bisher nur wenige oder veraltete Radwege. Die beiden Planer wollen vor allem
Protected Bike Lanes
anlegen, breite Radwege am Fahrbahnrand, von den Autospuren mit biegsamen Plastikstäben getrennt. Im ersten Jahr haben Wohlfarth von Alm und Feldkamp vier solcher Wege bauen lassen, es geht langsamer voran als vorgesehen. Oft protestieren Anwohner, wenn für Radwege Parkplätze wegfallen. Ein Konflikt um den knappen Platz, bei dem beide Seiten gute Argumente haben. Für Feldkamp ist klar, auf wessen Seite er steht: “Da beschweren sich 50, aber 2000 fahren dann da jeden Tag lang.” Es gibt keine Modellrechnungen, wie sich das alles auf den Verkehr auswirken wird – wo man Wege anlege, kämen die Radler schon, sagt Feldkamp.

Zur Fahrradstadt Berlin sollen bald auch Radschnellwege gehören, die sich wie ein Spinnennetz über die Stadt legen. Ob wirklich viele Leute zehn oder zwanzig Kilometer zur Arbeit radeln wollen, weiß aber keiner. In Deutschland gibt es bisher nur den Radschnellweg RS1 im Ruhrgebiet. Er ist erst in Teilen fertig, und die Zahl der Nutzer ist weit von den optimistischen Prognosen entfernt.

Ganz wichtig ist für die Berliner Planer: Dank der neuen
Protected Bike Lanes
soll das Radfahren sicherer werden. Sie sprechen von einer “Vision Zero” – keine tödlichen Unfälle mehr, das ist das Ziel, so steht es im Gesetz. Jedes Jahr sterben in Berlin deutlich mehr Radfahrer als Autofahrer oder Motorradfahrer, voriges Jahr waren es elf.

In Deutschland sinkt die Zahl der Verkehrstoten – nicht aber die der getöteten Radfahrer.
© Max Guther

In Deutschland sinkt die Gesamtzahl der Verkehrstoten seit vielen Jahren, nicht jedoch die der getöteten Radfahrer. Voriges Jahr stieg sie von 382 auf 445, womöglich auch wegen des heißen Sommers, der viele zum Radfahren einlud. Mehr Radfahrer bedeuten mehr Tote. Und gerade dort, wo man das Radfahren feiert, in Berlin, München, Hamburg und anderen Großstädten, nimmt die Zahl der Radler zu, die sich im Verkehr verletzen. München hat die Unfälle einmal zählen lassen, von 2010 bis 2014: Radfahrer verletzten sich von allen Verkehrsteilnehmern am häufigsten, durchschnittlich sechs am Tag. Auch klassische Radfahrstädte wie Münster und Freiburg, die oft als Vorbild genannt werden, leiden unter den vielen Unfällen. Pedelecs, elektrische Fahrräder, tragen dazu neuerdings besonders bei – die Zahl der Unfälle, an denen sie beteiligt sind, ist drastisch gestiegen. Der Berliner Planer Peter Feldkamp, der ehemalige Fahrradaktivist, glaubt allerdings, Radfahren werde nur “als etwas Gefährliches wahrgenommen. Das ist es nicht.”

Mit den Risiken des Radfahrens kennt sich in Deutschland niemand so gut aus wie Siegfried Brockmann, 60, er leitet die Unfallforschung der Autoversicherer. Er arbeitet an der Berliner Wilhelmstraße in einem Gebäude mit strahlender Glasfassade. Für die Versicherer sind Brockmanns Forschungen sehr wichtig, er kann jedes Jahr eine Millionensumme ausgeben. Fahrradunfälle sind für die Versicherungen teuer, weil die Radler oft schwer zu Schaden kommen. Über die “Vision Zero” sagt Brockmann: “Null Verkehrstote wird es nie geben.”

Mit Crashtests versucht Brockmann herauszufinden, was die Autohersteller tun können, damit sich Radler bei Zusammenstößen nicht so schwer verletzen. Die Hersteller sind unter Druck, ab 2024 müssen sie ihre Autos fahrradfreundlicher konstruieren, die Zulassungsregeln werden dann verschärft. Doch die Tests waren bisher ernüchternd. Wie ein Unfall abläuft, ist kaum berechenbar und hängt von vielen Faktoren ab, auch von der Größe des Radfahrers: Er kann auf der Motorhaube aufschlagen, auf der Scheibe oder den Streben daneben oder auch auf der Straße. Die Autohersteller haben die Motorhauben schon weicher gemacht, um die Fußgänger zu schützen, das kommt auch den Radlern zugute. Die schlimmsten Folgen hat der Aufprall auf der Straße oder auf den Streben neben der Scheibe. Die Streben gehören zur tragenden Konstruktion der Autos, die Hersteller können sie also nicht weicher machen. Helfen könnte der Einbau von Bremsassistenten, die Radfahrer erkennen und den Wagen automatisch zum Stillstand bringen.

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