/Konflikt in Syrien: Der dreibeinige Kamerahund

Konflikt in Syrien: Der dreibeinige Kamerahund

Dies ist ein fiktionaler Text, der sich mit dem Erleben des Krieges in Syrien befasst. Unsere Autorin, eine Schriftstellerin aus Damaskus, arbeitet seit Oktober 2018 dank eines Heinrich-Böll-Stipendiums in Deutschland. Ihre Erzählung entstand im Rahmen dieses Stipendiums, ebenso wie deren Übersetzung.

Es half uns Kindern nichts, dass wir stotterten,
und dem Kameramann half es nicht, dass er herumschrie. Es nützte ihm auch
nichts, dass die einzige Straße, die vor dem Krieg noch befestigt war, von
Anfang an das Ziel der Gefechte gewesen war. Seit den Einschlägen der ersten
Granaten war der Asphalt aufgerissen wie billiger Wandputz, und die Straße hatte
sich in einen erdigen Pfad mit tiefen Löchern und Steinen verwandelt, die nach
jedem Angriff woanders lagen. Der Kameramann stolperte mit seinem Stativ darauf
herum wie ein Hund auf drei Beinen, was ihn noch wütender machte.

Rabab Haider kommt aus Damaskus. Inzwischen arbeitet sie als Heinrich-Böll-Stipendiatin in Langenbroich als Übersetzerin, Kolumnistin und Schriftstellerin. Sie ist Mitglied des Syrian Women's Network und Gastautorin von "10 nach 8".

Rabab Haider kommt aus Damaskus. Inzwischen arbeitet sie als Heinrich-Böll-Stipendiatin in Langenbroich als Übersetzerin, Kolumnistin und Schriftstellerin. Sie ist Mitglied des Syrian Women’s Network und Gastautorin von “10 nach 8”.
© privat

Mit ihm waren 17 Soldaten jenes
Kampfverbandes gekommen, der unser Dorf von den Kämpfern der Gegenseite befreit
hatte. Der Fahrer Abu Hussein al-Dhars hatte sie ins Dorf gebracht. Abu Hussein
hatte keine Schneidezähne mehr im Mund und er dachte sich jedes Mal eine neue
Geschichte aus, wie er sie verloren habe. Nur ein paar Backenzähne waren ihm geblieben.
Einmal wollte er sein Gebiss bei einem Kampf mit Verkehrspolizisten, Wächtern
oder Gemüseverkäufern verloren haben, dann wieder bei einem Streit mit einem
Schmugglerkönig um eine berühmte Nachtclubkünstlerin, die Reisenden und Lastwagenfahrern
ihre Dienste angeboten hatte. Je nach Abu Husseins Laune änderten sich die
Versionen seines Zahnverlustes, und je nach den Umständen seines Lebens färbte
er die Geschichten neu. Als der Krieg ausbrach und dem Handel zwischen Syrien
und Irak Tür und Tor geöffnet waren – weiß Gott, was da alles über die Grenze
gebracht wurde –, erforderte es seine Arbeit als Schmuggler, dass er sich an
der Wüstenstraße ansiedelte. So kam es, dass immer mehr Steppentiere Eingang in
seine Geschichten fanden. Einmal behauptete Abu Hussein nun, seine Zähne seien
ihm bei einem Kampf mit einem Wolf abhandengekommen. Er habe den Wolf so lange
gebissen, bis dieser die Flucht ergriffen habe. Zuweilen ließ er ihn in seinen
Erzählungen sogar sterben.

Wir stellten uns vor die Kamera, so wie wir uns
früher immer nahezu automatisch vor dem Schuldirektor aufgestellt hatten, vor
dem Inspektor vom Ministerium oder vor dem Parteisekretär, der uns in Staatsbürgerkunde und Geschichte unterrichtet hatte: die Kleinen und
die Jüngeren vorn. Deshalb stand auch ich in der ersten Reihe, in der Mitte,
und die Älteren und Größeren dahinter. Ganz hinten standen Khalil und Mahmud,
beide 13 Jahre alt. Mahmud war der Fülligste und Größte von uns allen.
Ich war zehn. Neben mir stand der Jüngste von uns, Mahmuds achtjähriger Bruder,
der nur ein Jahr lang zur Schule gegangen war. Danach hatte der Krieg begonnen, und
alle saßen seitdem nur noch ängstlich in ihren Häusern und niemand dachte mehr
an Schule.

“Wir machen eine Reportage”, sagten die Soldaten.
“Reportage”, sagte auch der Kamerahund, und die Großen unter uns wiederholten
das Wort: “Reepoortaage”. “Reepoortaage”, wiederholte Abu Hussein erklärend, wir versuchten, uns das Wort zu merken und bewahrten es im Mund auf, sodass
kein einziger Buchstabe davon herausfallen konnte.

Wir mochten den Kameramann nicht und die Soldaten
auch nicht, erst als die Reporterin auftauchte, änderte sich die Stimmung. Sie
stellte sich hinter die letzte Reihe, Khalils Kopf genau neben ihrem Busen. Der
Plan war, dass sie von dort aus zu sprechen beginnen, dabei auf die Kamera zulaufen
und uns danach interviewen würde. Die ersten vier Versuche gingen schief und
uns war egal, warum. (Einmal stolperte der Kamerahund über das Kabel, das er um
seinen Arm gewickelt hatte und das auf dem Boden an irgendwelchen Steinen
hängen blieb, und dreimal, weil wir es nicht bleiben lassen konnten, uns zur
Reporterin umzudrehen.) Uns interessierte lediglich, wie die Frau sich jedes Mal
wieder hinter Khalil stellte, der mit durchgedrücktem Rücken vor ihr stand und
dabei seinen Kopf so nah wie möglich an ihren Busen rückte und sich praktisch an
ihn anlehnte. Immer wenn der Dreh nicht geklappt hatte, musste sie zurück
hinter Khalil, und der stellte sich immer wieder so steif hin, dass sein
Kopf ihren Busen berührte. Danach erzählte Khalil uns noch lang und breit von
dieser Berührung und davon, wie er auch einmal die Brust von Fatma, dem
schönsten Mädchen im Dorf, berührt haben wollte.

Jedenfalls bemühten wir uns redlich, den Unsinn
hinter uns zu bringen, aber bei den Interviews stotterten wir und niemand verstand
uns, obgleich wir das, was uns nicht über die Lippen kam, mit Handbewegungen zu
verdeutlichen versuchten. So ging die ganze Reportage schief. Unsere Mütter
sagten, dass wir noch nicht gestottert hätten, als wir vor dem Krieg zur Schule
gegangen waren. Wir Kinder begannen erst zu stottern, als drei oder vier
Kriegsparteien um das Dorf kämpften und jede es mit Bomben, Raketen,
Scharfschützen und Minen von den anderen befreien wollte. Die Reporterin ließ
das Mikrofon sinken, dessen Spitze aussah wie unsere Eicheln, und wandte sich
stattdessen den Männern des Dorfes zu. Der Hund mit der Kamera und dem Stativ
humpelte ihr dreibeinig hinterher.

Wie uns Jungen ging es auch den Erwachsenen: Die
Männer waren von der blonden Reporterin angetan; sie bemühten sich jedoch,
gleichgültig zu wirken. Die Mütter – die jetzt zu eifersüchtigen Ehefrauen
wurden – stellten sich auf den Fußweg gegenüber, beobachteten ihre Männer und
beschlossen, dass die Haare der Journalistin schlecht gefärbt seien und dass
Hasiba bint Manahil, die Dorffriseurin, die beim letzten Beschuss des Dorfes
ums Leben gekommen war, ihr die Haare besser gefärbt hätte. Wir Kinder wussten
außerdem, dass das dick aufgetragene Lippenrot der Frau klebrig war, denn
Mahmud hatte nach Hasibas Tod aus den Überresten des Salons einen solchen
Lippenstift bekommen. Seine Schwester war die erste Ehefrau von Hasibas Mann
gewesen und hatte geschwiegen, solange Hasiba gelebt hatte, denn diese hatte
sie – wie bei Zweitfrauen üblich – sehr grob behandelt. Als Hasiba starb,
betrachtete Mahmuds Schwester sich als ihre legitime Erbin. Wir bemalten mit
dem Lippenstift damals eine Orange, in die wir ein Loch bohrten. Um das Loch
herum malten wir Lippen, und Khalil sagte: “Und jetzt die Zunge rein und den
Saft raussaugen!” Wir begannen reihum, Saft aus dem Loch zu saugen, und wir
taten es mit filmreifer Hingabe.

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