/Jürgen Habermas: Der Zuversichtliche

Jürgen Habermas: Der Zuversichtliche

Die Denker der Aufklärung waren Optimisten. Sie glaubten,
dass die modernen Menschen mit den Mitteln von Wissenschaft und Vernunft enorme
Fortschritte im Verständnis und der Kontrolle der physischen Welt erzielen
würden. Und optimistisch sagten sie voraus: Mithilfe von Wissenschaft und
Vernunft würden bald auch Fortschritte im Verständnis und in der Kontrolle der
soziopolitischen Welt zu verzeichnen sein.

Hegel war der erste, der solch schlichten
Verallgemeinerungen skeptisch gegenüberstand. Doch erst Karl Marx konnte
zeigen, dass ein politisches System, in dem ein “freier” Markt den Egoismus und
die individuelle Rationalität des Einzelnen über die soziale Solidarität
stellte, viele Bürgerinnen und Bürger ins Elend stürzt. Dann kamen zwei Weltkriege und ein
Holocaust.

Jürgen Habermas wurde geistig in diese skeptische Haltung
gegenüber der Aufklärung und ihrer Konzeption individueller Rationalität
hineingeboren. Für die Gründungsväter der Frankfurter Schule waren die Gräuel
des 20. Jahrhunderts der klare Beweis dafür, dass mit den politischen Systemen
Europas
etwas im Argen lag. Keine Aufklärung würde daran etwas ändern können.

Habermas war zuversichtlicher. Das “System” des modernen
Europas ist historisch ein sehr junges Phänomen; doch viel tiefer, nämlich seit
Äonen, sind die Menschen in ihrer alltäglichen Lebenswelt verwurzelt. Diese
umfasst ein soziales Gewebe aus Familie, Freunden und Gemeinschaft, und darin
begreifen sich die Einzelnen nicht als autonome Quelle von Handlungsfähigkeit
und Werten, sondern als Teil eines größeren Ganzen. Innerhalb des sozialen Netzes
kommunizieren die Individuen miteinander, wobei entscheidend ist, dass sie
Kooperation auch dann voraussetzen, wenn Dissens herrscht und sie über ihre
Ziele uneinig sind.

Neu und brillant an Habermas’ Analyse war seine Einsicht,
dass diese kooperative Anerkennung kein aktiv angestrebtes politisches
Bewusstsein ist. Es ist vielmehr eine Voraussetzung, die sämtliche
Interaktionen von Menschen strukturiert. Wenn wir andere Personen in eine
Diskussion darüber verwickeln, was wir tun oder glauben sollen, bedeutet dies
zugleich, dass wir ihren Ansichten Respekt zollen und wir uns möglicherweise
über gemeinsame Ziele verständigen können.

In seinen frühesten Arbeiten verwies Habermas auf
historische Beispiele, in denen sich Menschen unterschiedlichen Hintergrunds
auf einen gemeinsamen Diskurs einließen. Unglücklicherweise verselbständigten
sich die politischen und wirtschaftlichen Systeme, sie wurden gleichsam vom
kooperativen Diskurs abgeschnitten, und die Gesellschaft wurde zunehmend von
jenen kontrolliert, die ihre individuelle Rationalität mit Geld und Macht
ausübten. Gleichzeitig dehnte sich die systemische Logik von Geld und Macht
immer weiter in die Alltagswelt aus – Politiker perfektionierten die Kunst der
Propaganda und Kapitalisten die Kunst der Werbung. Sie zielen nicht auf soziale
Solidarität, sondern auf die Mobilisierung von Urängsten.

Ein entscheidender Teil von Habermas’ Analyse besteht in der
Erkenntnis, dass die menschliche Vernunft keine isoliert ausgeübte Fähigkeit
ist, sondern das Resultat kooperativer Kommunikation. Schon früh in der
Evolution gebrauchen Menschen Gründe, um ihre Überzeugungen und Handlungen
anderen gegenüber zu rechtfertigen. Zum Konsens kommt es allerdings nur, wenn
sich beide Seiten einer kooperativen Einstellung verpflichtet fühlen und bereit
sind, den besten Grund zu respektieren: weil alle zusammen lieber erfolgreich
Ziele verfolgen wollen, als das letzte Wort zu behalten.

Mit anderen Worten: Menschen sind voneinander abhängig, und
diese wechselseitige Abhängigkeit bringt eine Form von kooperativer Sozialität
mit sich, die in anderen tierischen Spezis unbekannt ist. Und das vorrangige
Instrument für eine solche soziale Koordination ist die einzigartige
menschliche Sprache, es sind Formen von Austausch und Diskurs. Deshalb ist es
für Habermas entscheidend, dass auch die moderne Gesellschaft Wege finden muss,
den kooperativen Austausch unter allen Bürgerinnen und Bürgern intensiver als bisher in die
politische und wirtschaftliche Entscheidungsfindung hineinzutragen. Der
gesellschaftliche Vernunftgebrauch, davon ist er überzeugt, wird nicht nur die
wechselseitige Achtung und Anerkennung der Individuen fördern; er wird auch
einen gesellschaftlichen Prozess stärken, bei dem wir uns voreinander
rechtfertigen und ein Verständnis über unsere gemeinsamen Ziele ausbilden.

Aus dem Englischen von Michael Adrian

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