/Fall Walter Lübcke: “Die Feinde unserer offenen Gesellschaft kennen keine Grenzen”

Fall Walter Lübcke: “Die Feinde unserer offenen Gesellschaft kennen keine Grenzen”

Bundesweit äußern sich Politikerinnen und Politiker besorgt angesichts der Erkenntnisse im Mordfall des Anfang Juni von einem mutmaßlich rechtsextremistischen Täter erschossenen früheren Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker rief zur Wachsamkeit auf: “Diese furchtbare Tat macht uns wieder einmal deutlich, dass die Feinde unserer offenen Gesellschaft keine Grenzen kennen“, sagte Reker, die selbst von einem Rechtsextremisten attackiert worden war. “Sie sind bis auf das Äußerste zu allem bereit. Das muss uns wachsam machen, aber nicht ängstlich.” Reker war 2015 im Oberbürgermeister-Wahlkampf von einem rechtsextremistischen Attentäter mit einem Messer in den Hals gestochen und lebensgefährlich verletzt worden. Nach Überzeugung des Gerichts wollte er mit der Tat ein Signal setzen gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung.

Der ehemalige Bürgermeister der Gemeinde Tröglitz in Sachsen-Anhalt, Markus Nierth, sagte, die Nachrichten belebten “die Erinnerungen an die eigenen angstbeladenen Wochen und Monate ” wieder. Im Fall Lübcke hätten rechtsextremistische “Terroristen durchgezogen, was sie sich seit Jahren in ihren perversen Gewaltfantasien erträumen”, sagte er den Zeitungen des RedaktionsNetzwerkes Deutschlands. Nierth war nach seinem Einsatz für Asylsuchende von Rechtsextremisten 2015 bedroht worden und von seinem Amt zurückgetreten.

Der Bürgermeister von Altena (Nordrhein-Westfalen), Andreas Hollstein (CDU), sagte, ein rechtsextremistischer Mord an einem Politiker “wäre eine neue Dimension, gegen die man mit der ganzen Härte des Rechtsstaates vorgehen muss. Man darf den Rechtsextremisten keinen Millimeter Spielraum lassen.” Hollstein war 2017 von einem Mann mit einem Messer attackiert worden, der sich während des Angriffs abfällig über die Flüchtlingspolitik des CDU-Politikers äußerte.

Die Bundesanwaltschaft hat die Tötung Lübckes als politisches Attentat eingestuft und geht von einem rechtsextremen Hintergrund aus. Sie ermittelt gegen den 45-jährigen einschlägig vorbestraften Stephan E. Er ist nach Angaben der Behörde dringend verdächtig, Lübcke heimtückisch durch einen Kopfschuss getötet zu haben. E. ist mehrfach vorbestraft und unterhielt nach Informationen von ZEIT ONLINE zumindest in der Vergangenheit Verbindungen in die rechtsextreme Szene. Eine Spezialeinheit hatte ihn am Wochenende in Kassel gefasst, er sitzt unter Mordverdacht in Untersuchungshaft.

Fall Walter Lübcke – Bundesanwaltschaft geht von rechtsextremistischem Hintergrund aus
Bei der Ermordung des CDU-Politikers weisen laut Bundesanwaltschaft mehrere Hinweise auf eine rechtsextremistische Tat hin. Der Tatverdächtige schweigt zu den Vorwürfen.
© Foto: Christoph Schmidt/dpa

Hass und Hetze

Überlebende des KZ Auschwitz teilten ihre Besorgnis darüber mit, dass in Deutschland erneut verfassungstreue Staatsdiener von der rechten Szene “als Hassobjekte deklariert und zum Abschuss freigegeben” werden könnten. Dies erinnere Betroffene an die eigene Verfolgungsgeschichte zu Beginn der Nazi-Diktatur, sagte Exekutiv-Vizepräsident Christoph Heubner. Anders als bei der Zerstörung der Weimarer Republik hoffe man diesmal jedoch auf “die Wachsamkeit der deutschen Gesellschaft”.

Der hessische CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand wertet die Tötung auch als Folge von generellen politischen Attacken aus den Reihen der AfD. “Wahr ist auch, dass erst der Hass und die Hetze der letzten Jahre das möglich gemacht haben”, sagte er im Deutschlandfunk. Und es “führt eine direkte Linie von der grenzenlosen Hetze von Höcke und Co. zu Gewalt und jetzt auch zu Mord”. Die AfD wies das zurück: “Wir haben mit solchen Taten nichts zu tun”, sagte ein Sprecher der Bundestagsfraktion.

Auch mehrere Experten warnen vor rechtsextremistischen Strukturen. “Die nächsten 12 bis 18 Monate werden besonders gefährlich”, sagte der Rechtsextremismusexperte Gideon Botsch, der die Forschungsstelle für Antisemitismus und Rechtsextremismus des Moses Mendelssohn Zentrums an der Universität Potsdam leitet. Als Risikofaktor nannte Botsch im Gespräch mit dem Tagesspiegel eine von Frust geprägte rechte Szene – unter anderem durch die rückläufige Aufmerksamkeit für Proteste wie bei Pegida. Es sei “wahrscheinlich, dass mit dem Abflauen der Aufmerksamkeit für solche Gruppen die terroristischen Akte zunehmen werden”. Der Politikwissenschaftler Hajo Funke sagte der Passauer Neuen Presse, der Fall “erinnert sehr stark an den Mord an Halit Yozgat im Jahr 2006 in Kassel, der der rechtsextremen NSU zugeordnet wird”. Sowohl in Kassel als auch in Dortmund gebe es ein dichtes und gewaltbereites neonazistisches Netzwerk. Diese seien auch miteinander verbunden. 

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