/Paul Mason: “Wir müssen uns vom marktbezogenen Denken verabschieden”

Paul Mason: “Wir müssen uns vom marktbezogenen Denken verabschieden”

In seinem neuen Buch “Klare, lichte Zukunft” (Suhrkamp) beschreibt Paul Mason den weltweiten Aufstieg rechter Bewegungen, der zugleich die Werte der Aufklärung, die Freiheit und die Demokratie als Ganzes bedrohe. Der bekennende Technikutopist Mason ist außerdem besorgt über Tech-Konzerne, die mithilfe von künstlicher Intelligenz und Algorithmen zunehmend die Kontrolle über die Menschen gewönnen. Dem hält der 59-jährige Publizist eine, so der Untertitel seines Buches, “radikale Verteidigung des Humanismus” entgegen: Mason ruft zu kleinen Akten des Widerstands auf – um wieder Raum für menschliches Handeln zu schaffen.

ZEIT ONLINE: Herr Mason, es sind gerade keine guten Zeiten für “Schneeflocken”, oder?

Paul Mason: Es ist aber zumindest ein guter Zeitpunkt für einen Schneeflockenaufstand.

ZEIT ONLINE: Den Begriff snowflake nutzen unter anderem die Anhänger Donald Trumps, um vermeintlich progressiv gesinnte Linke als verweichlicht und verletzlich abzustempeln. Ihnen scheint das Wort sehr wichtig zu sein. Warum?

Mason: Es zeigt, wie groß die Angst der Rechten vor der Einzigartigkeit von Menschen und vor der Freiheit ist. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem Film Fight Club. Tyler Durden, der Protagonist, sagt zu einer Gruppe Schlägertypen: “Ihr seid keine wunderschönen, einzigartigen Schneeflocken. Ihr seid genauso verweste Biomasse wie alles andere.” Das ist zutiefst antihuman. Der Mensch unterscheidet sich durch nichts von Tieren oder Fäkalien, sagt Durden damit.

ZEIT ONLINE: Heute wird der Begriff dagegen von Vertretern der Neuen Rechten als Beschimpfung Andersdenkender verwendet.

Paul Mason: Paul Mason ist ursprünglich als Fernsehjournalist in Großbritannien bekannt geworden, zunächst für die BBC und später für Channel Four. Mittlerweile ist er vor allem als Sachbuchautor tätig. Sein Buch "Postkapitalismus" (Suhrkamp) war 2016 für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis nominiert.

Paul Mason ist ursprünglich als Fernsehjournalist in Großbritannien bekannt geworden, zunächst für die BBC und später für Channel 4. Mittlerweile ist er vor allem als Sachbuchautor tätig. Sein Buch “Postkapitalismus” (Suhrkamp) war 2016 für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis nominiert.
© Awakening/AFP/Getty Images

Mason: Im Film ist diese Szene als Kritik an toxischer Maskulinität gemeint. Aber die Rechten feiern diese toxische Maskulinität. Wir müssen dem einen radikalen Humanismus entgegenstellen. Wer für eine progressive, linke Politik kämpft und sich für den Klimaschutz einsetzt, sollte den Begriff für sich reklamieren. Genauso, wie die frühe Homosexuellenbewegung sich einst über den abwertenden Begriff queer neu definierte. Mit dem Wort Schneeflocke haben sie uns ein Etikett für dieses Projekt überlassen, das unsere Freiheit, Einzigartigkeit und Vergänglichkeit perfekt beschreibt – und das ein viel poetischerer Ausdruck für das ist, was ich “vernetztes Individuum” nenne.

ZEIT ONLINE: Auf das setzen Sie große Hoffnungen. “Das vernetzte Individuum ist sehr viel eher der ‘Träger’ der Merkmale der zukünftigen befreiten Menschheit als die Bergleute in der Generation meines Großvaters”, schreiben Sie in Ihrem Buch. Was meinen Sie damit?

Mason: Viele Linke in meinem Alter glauben nach wie vor wie einst Karl Marx, das industrielle Proletariat wäre der Akteur der Veränderung. Im Paris von 1844 war Marx umgeben von radikalisierten Arbeitern. Vielen fehlte die Bildung zu ihrer Entfaltung, aber Marx und seine Nachfolger glaubten, die Arbeiter könnten unabhängig von ihrem eigenen Denken den Virus einer künftigen Gesellschaft in die Welt tragen. Damit lagen sie falsch. Die Arbeiterklasse hat diesen Virus nicht getragen, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie ihn künftig tragen würde.

ZEIT ONLINE: Das sollen die von Ihnen beschriebenen vernetzten Individuen der Gegenwart tun?

Mason: Ich bin überzeugt, Marx lag richtig mit seinem teleologischen Blick auf die menschliche Spezies. Hierauf beruht mein radikaler Humanismus. Der Mensch hat die Fähigkeit, gemeinschaftlich und nach einem bewussten Plan zu handeln. Er ist in der Lage, sich mithilfe technologischer Innovationen zu befreien. Der Mensch ist die einzige Spezies mit einer sozialen Geschichte, Tiere und Pflanzen haben lediglich eine natürliche Geschichte. Marx sah den Menschen als Akteur. Er betrachtete die Freiheit als etwas, das der Mensch erreichen kann, indem er die Gesellschaft verändert. Der Mensch war für Marx mehr als ein Rad in der Maschine. Das macht seine Gedanken heute im Zeitalter der Algorithmen hochaktuell.  

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Mason: Eine ganze Generation hat den Kult um den Markt als Lenker der menschlichen Geschicke verinnerlicht. Dieser Kult ebnet den Weg für die Unterwerfung unter die Maschinen. Haben wir die Kontrolle erst einmal an die Maschinen verloren, werden wir sie nie wieder zurückerlangen. Wir werden willenlose Sklaven der intelligenten Maschinen sein – und wir sind umgeben von vielen Menschen, die sich genau das wünschen.

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