Ein Künstler geht nicht in Rente, er bleibt
Künstler ein Leben lang. Zu seinem Unglück. Er muss mitansehen und fast
zwanghaft mitstenografieren, wie es bei ihm weniger wird – Angehörige, Haare,
Libido, Produktivkraft, öffentliche Aufmerksamkeit.
Die Tagebuchaufzeichnungen Gegen Ende des im
letzten Jahr verstorbenen Essayisten Michael Rutschky aus den Jahren 1996 bis
2009 geben Aufschluss über die individuellen, aber womöglich objektivierbaren
Beschwernisse eines alternden und schließlich “alten” Schriftstellers und sie
sind keine besonders erheiternde Lektüre. Das Buch beginnt mit dem Tod der
Mutter und schließt mit dem Tod der Schwiegermutter, es handelt von der
Darmkrebserkrankung von Rutschkys Frau Katharina, von Zumutungen und
Enttäuschungen, von der eigenen, als “gescheitert” betrachteten Karriere, vom
eigenen Verfall.
“Immer wieder macht es R. fassungslos, wenn er
sich im Spiegel sieht, zufällig oder mit Absicht”, notiert Rutschky sich unter
dem 14. Oktober 2005. “Ein Mann mit Bauch und schlaffem, aufgedunsenem Gesicht.
Das schwere schwarze Seidenhemd und der neue Anzug, Pfeffer-und-Salz,
verwandeln ihn in keinen angenehmen, gefälligen Anblick. Das Stoppelhaar steht
kreuz und quer und zeigt unregelmäßige Löcher oben auf dem Schädel (kein
regelmäßiger Schwund, keine ,Geheimratsecken‘, Tonsur oder so was). So wollte
er, das kann er aus vollem Herzen sagen, nie aussehen. Lange Jahre stand er
immer wieder vom Schreibtisch auf, um sich in jenem Gästezimmerspiegel
anzuschauen. Das befriedigte ihn dank der Klamotten, die er an dem Tag als die
passenden angezogen hatte, dank seines Gesichts und der Körperhaltung. Das
Spiegelstadium als erholsame Pause im Arbeitsprozess. Manchmal macht er das
immer noch so. Aber der Erfolg bleibt in der Regel aus.”
Wie in den beiden veröffentlichten Tagebüchern davor, Mitgeschrieben
und In die neue Zeit, schafft Michael Rutschky Distanz zum eigenen
Selbst, indem er seine Eintragungen in die dritte Person überführt. Ein
offenbar nötiger Kunstgriff, mit dem sich das Tagebuch-Ich abspalten und in die
Welt entlassen lässt. Es zeigt sich hier einmal mehr in seiner ganzen
Ungeschütztheit, gelehrt, wahrnehmungsverliebt, stilistisch souverän, aber eben
auch narzisstisch, nachtragend, missgünstig und mitunter ziemlich kaltherzig,
sogar wenn es dabei um seine Nächsten geht. Kurt Scheel etwa, der sich rührend
um den todkranken Rutschky gekümmert und ihm am Sterbebett versprochen hat,
diese dritte Tagebuchkompilation für ihn zu Ende zu bringen und zum Druck zu
befördern, ist mehr als enttäuscht, beinahe entsetzt über die Lieblosigkeit,
mit der sein Freund ihn darin zeichnet, und beklagt sich im brillanten Vorwort
mit bitteren Worten.
Die Haltung, die Rutschky “der Welt, aber auch vielen seiner Freunde
gegenüber einnimmt, könnte man ‘unwohlwollend’ nennen, oft ist sie schlicht
verletzend”. Wie sehr das Gelesene Scheel verletzt hat, weiß Jörg Lau zu
berichten, Rutschkys Schüler und Universalerbe des Nachlasses. “Mancher
verliebe sich in die falsche Frau”, zitiert er Scheel im Nachwort, “und mancher
binde sich halt an den falschen Freund.” Ein paar Tage nach Abgabe des
Manuskripts beim Verlag bringt sich Kurt Scheel um. “Und bis heute lässt die
hinterbliebenen Freunde das bodenlose Gegrübel über die Frage nicht los”,
schreibt Lau, “ob da irgendwo ein Zusammenhang besteht.”
“Du hast einen Beruf ergriffen, den du auch nach 30 Jahren nicht beherrschst”
Es sind die Umstände des Buches, die wirklich
betroffen machen, Rutschkys Text selbst wirkt angesichts der in Vor- und
Nachwort soufflierten Fallhöhe bei aller gelegentlichen Düsterkeit,
Desillusionierung und Abgründigkeit bereinigt. Als “Pöbler” und
“rumpelstilzchenartiger Wutteufel”, den Scheel in den späten Tagebüchern
ausmacht, taucht er kaum auf. Vielleicht zum Glück. Vielleicht war das Scheels
letzter Liebesdienst an den Freund, dass er ihm diese Pose verwehrt und damit
die endgültige Entzauberung des coolen, souveränen, humorbegabten
Intellektuellen verhindert.
Einen kleinen Einblick immerhin bekommen wir
davon. Schwer zu ertragen sind seine Schmähungen Katharina Rutschkys, der
klugen Essayistin, die aber nicht so professionell und straight wie er ihre
Texte heruntertippen kann, sondern die Schreibblockaden laut Michael Rutschky oft
mit diversen Gläsern Wein fortspülen muss. Den Mann macht die Trinkerei der
Frau wahnsinnig. “Du hast einen Beruf ergriffen, den du auch nach 30 Jahren
nicht beherrschst”, denkt er sich und sagt es nie. “Du wolltest immer mit mir
rivalisieren, und das sollte ich großzügig subventionieren.” Das Traumpaar der
Berliner Intelligenzija litt offenbar an seinem Konkurrenzverhältnis. Man fühlt
sich bisweilen an die neurotische Beziehung zwischen Max Frisch und Ingeborg Bachmann erinnert, wenn man Rutschkys regelmäßige Klage über seine trinkende
Frau liest und seine triumphierende Häme, wenn mal wieder etwas schiefläuft bei
ihrer Arbeit. Besonders glücklich scheint diese Ehe am Ende nicht gewesen zu
sein. Oder das Eheglück ist Rutschky zu banal und selbstverständlich, als dass
man ihm besondere Erwähnung schenken müsste. Notierenswert erscheinen ihm, gegen
Ende, nur die Negativausschläge.
Michael Rutschky:
“Gegen Ende. Tagebuchaufzeichnungen 1996-2009.” Zusammengestellt von Michael
Rutschky und Kurt Scheel. Mit einem Nachwort von Jörg Lau. Berenberg Verlag,
Berlin 2019. 360 Seiten, 24 Euro.
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