/Mike Singer: In der Achterbahn, wenn die Welt kopfsteht

Mike Singer: In der Achterbahn, wenn die Welt kopfsteht

Von null auf hundert, das dauert bei der Achterbahn Blue Fire nur 2,5 Sekunden. “Du musst die Arme hochnehmen!”, schreit Mike Singer gegen den Fahrtwind, als der Wagen wie im freien Fall nach unten saust. “Loslassen!” Freddy, sein Bodyguard, tut alles außer das. Loslassen ist nicht sein Job. Loslassen kann Mike, er nicht. Die Blue-Fire-Bahn im Europa-Park, einem Vergnügungspark im baden-württembergischen Rust, hat einen Looping. Wenn andere Menschen sagen, da drehe sich nicht nur die Welt um einen, sondern einem der Magen um, sagt Mike: “Das ist einfach nur geradeaus fahren.” Was stimmt, aber eben doch nur halb. Eine Geradeausfahrt, ja. Doch die Welt um einen herum steht dann kopf. So, mitten im Looping, nur permanent, stellt man sich das Leben eines Popstars vor.

Mike Singer ist 19 Jahre alt und einer der erfolgreichsten deutschen Sänger. Wer ihn nicht kennt, ist entweder älter als Anfang 20 und damit zu alt, um Mitglied seiner Fangemeinde zu sein. Oder hat keine Kinder im Teenageralter, die Fanaccounts auf Instagram für ihr Idol einrichten und unter Mikes eigene Posts kommentieren: “ily” (“I love you“), “ilysm” (“I love you so much“) oder “Danke für alles, was du für uns tust”. Für diese Jugendlichen, so klingt es auf Instagram, ist es der schönste Tag in ihrem 15 Jahre alten Leben, wenn Mike eines ihrer Bilder likt. 1,5 Millionen Follower hat Mike auf Instagram, knapp 750.000 auf YouTube, fast 350.000 auf Facebook; die Reihenfolge zeigt die unterschiedliche Bedeutung der Plattformen für Jugendliche. Mike nimmt auch Musik auf, eine Plattenfirma verkauft sie, das könnte man fast vergessen angesichts seiner Social-Media-Präsenz.

Was also tut ein Popstar heute so, was tut er für seine Fans? Wie wird und bleibt man ein Popstar? Wie sieht Ruhm im Jahr 2019 aus, und was stellt er mit dem eigenen Leben an? Was passiert mit jemandem, der früh im Leben vom Ruhm gekostet hat, wenn er erwachsen wird? Wenn das, was ihn bekannt gemacht hat, in seiner Flüchtigkeit zu verschwinden beginnt – seine jugendliche Leichtigkeit, die Naivität, der Oh-ist-der-süß-Faktor? Zum Beispiel wenn Mike nun über Groupie-Sex rappt: “Sie will zum Konzert kommen / Doch wenn Mama da ist, darf sie mir nicht näher kommen, nein, nein / Doch Backstage darf sie gern kommen / Ihr Gesicht wie aus der Werbung, sie kann gern zuerst kommen”.

Der Vergnügungspark, ein ausgelagertes Kinderzimmer

Um einer Beantwortung dieser ganzen Fragen näher zu kommen, sollte dieser Text hier eigentlich einen Besuch bei Mike zu Hause erzählen. Es sollte ein letzter Bericht von dem Ort aus sein, an dem ein erwachsenwerdender Star noch Kind sein kann. Das war die journalistische Idee. Weil sein Zuhause aber bleiben solle, was es ist, also ein wirklich unberührter Rückzugsort, schlug Mikes Management den Europa-Park als Treffpunkt vor. Er selbst sagt, er sei früher so oft in den Europa-Park gefahren, wie es ging. Der Park sei sein zweites Zuhause. Mike ist nur ein paar Zug- und Busminuten entfernt aufgewachsen in Offenburg. Der Park ist demnach eine Art ausgelagertes Kinderzimmer. Dann also: einmal Achterbahnfahren mit Mike.

Als Mike wieder auf festem Boden vor dem Eingang der Bahn steht, spielt sich folgende Szene ab, die sich in sehr ähnlicher Dramaturgie an diesem Tag im Europa-Park mehrfach wiederholen wird: Ein Mädchen, es heißt in diesem Fall Marie und wird das Erlebnis später detailliert auf ihrem Mike-Singer-Instagram-Fanaccount dokumentieren, erblickt aus seiner kleinen Gruppe von Mädchen im Alter von ungefähr 13 bis 16 Jahren heraus als Erste Mike – und für einen kurzen, schockartigen Augenblick lang wirkt es so, als entweiche alle Spannung aus Maries Körper. Sie sackt in die Knie, schlägt sich die Hände vor das Gesicht, dann vor den Bauch. Und fängt an zu schluchzen.

Marie steht völlig fassungslos neben Mike in ihrer roten, regenfesten Übergangsjacke. Dann fasst sie sich – und macht ein Foto mit ihm. Mike legt den Arm um Marie und blickt ihr in die Augen. Er hört zu. Gibt Autogramme, denn nun kommen auch die anderen Mädchen dran. Mike überlässt es seinem Bodyguard Freddy zu entscheiden, wann genug Fotos geschossen wurden. Solange bleibt er stehen, lächelt. Als er sich verabschiedet, umarmt er die Mädchen nacheinander und sagt: “Ich wünsche euch noch einen schönen Tag!”

Mike wird später Maries Post auf Instagram reposten. Und Marie wird darunter schreiben: “du machst mich grad zum glücklichsten Menschen der Welt”.

Es wirkt nicht gespielt, aber bei jeder Gruppe Fans sind es doch die gleichen Abläufe, die gleichen Sätze, die gleichen Posen für die Fotos. Kurze Frage zwischendurch: Wie ist das für ihn? Mike lächelt leicht, beantwortet die Frage wie die meisten anderen auch scheinbar ohne viel nachzudenken: “Das ist ein absolut merkwürdiges Gefühl, wenn das passiert. Ich freue mich natürlich immer.” Er lächelt noch einmal leicht.

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