/Energiewende: “Wir reden über Utopien. Die muss man machen und erkämpfen”

Energiewende: “Wir reden über Utopien. Die muss man machen und erkämpfen”

Wie erreicht Deutschland seine Klimaziele?
Dazu gibt es zwei ganz unterschiedliche Haltungen: Während die einen darauf
setzen, dass neue, klimafreundliche Technik den Weg zu einer Wirtschaftsweise
ohne Treibhausgasemissionen bahnen möge, sagen die anderen: Das wird nicht
reichen. Um das Klima zu retten, müssen wir unser Leben – die Art, wie wir
arbeiten, wirtschaften, einkaufen, wohnen, zusammenleben – von Grund auf
verändern.

Zu ihnen gehört das I.L.A.-Kollektiv, ein interdisziplinärer Zusammenschluss aus rund 30 jungen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
. (Das I.L.A. im Namen steht für imperiale Lebensweise
und solidarische Alternativen.)

In dem Buch “Das gute Leben für Alle. Wege in die solidarische Lebensweise”,
das im Oekom-Verlag erschienen ist, beschreiben sie, wie eine klimafreundliche
Gesellschaft aus ihrer Sicht aussehen kann und wo sie heute schon gelebt wird.
Jonas Lage und Maximilian Becker sind Teil des I.L.A.-Kollektivs. Im Interview
sprechen sie darüber, wie eine Energie- und Verkehrswende funktionieren könnte,
die auch den Menschen im globalen Süden ein gutes Leben ermöglichen könnte.

ZEIT ONLINE: Herr Becker, Herr Lage, Sie
sagen: Für eine richtige Energiewende reicht es nicht, Kohle durch erneuerbare
Energien zu ersetzen. Warum?

Energiewende: Jonas Lage

Jonas Lage
© privat

Jonas Lage: Falls wir unseren heutigen
Energieverbrauch auf erneuerbare Energien übertrügen, bräuchten wir in Zukunft
extrem viele Windräder und Solaranlagen – und entsprechend viele Rohstoffe,
also seltene Erden, Neodym, Zinn und anderes, um sie herzustellen. Wir decken
in Deutschland derzeit knapp 40 Prozent der Stromversorgung und rund 15 Prozent
des gesamten Energiebedarfs, also für Elektrizität, Wärme, Industrie und
Verkehr, aus erneuerbaren Quellen. Wenn wir nun die Mobilität elektrifizieren, steigt
der Strombedarf noch.

ZEIT ONLINE: Sie sagen, den
Energieverbrauch zu senken, gehe nur durch eine grundlegende Transformation von
Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Geht es nicht auch durch sparsamere
Technik und Digitalisierung?

Wenn die Städte entsprechend geplant sind, muss es noch nicht einmal Verzicht bedeuten, das Fahrrad zu nutzen statt des Autos wo immer möglich.

Jonas Lage

Lage: Das funktioniert nur begrenzt. Wir
haben unsere Wohnungen in den letzten 40 Jahren immer besser gedämmt, aber gleichzeitig
wohnen wir auf immer größerer Fläche, und das frisst den Energiespareffekt auf.
Wir haben effizientere Autos, aber sie sind größer und schwerer als früher, werden
mehr gefahren und auch ihre Anzahl wächst – also steigt der
Energieverbrauch. Natürlich ist es sinnvoll, zum Beispiel über E-Mobilität
nachzudenken. Aber sie einzuführen bringt dem Klima erst dann richtig etwas,
wenn wir gleichzeitig das Verkehrssystem grundlegend umbauen.

ZEIT ONLINE: Wie denn?

Lage: Die Städte so anzulegen, dass
Wohnen, Einkaufen, Arbeitsplätze und Treffpunkte für die Nachbarschaft näher
beieinanderliegen als derzeit. Auf kleinerer Fläche zu wohnen, um Heizenergie
zu sparen. Das Fahrrad zu nutzen statt des Autos wo immer möglich – und wenn
die Städte entsprechend geplant sind, muss das noch nicht einmal Verzicht
bedeuten, im Gegenteil: Es wird ganz selbstverständlich und sogar angenehm.

Energiewende: Maximilian Becker

Maximilian Becker
© privat

Maximilian Becker: Man stelle sich vor,
man würde alle 47 Millionen in Deutschland gemeldete Pkw auf E-Antrieb
umstellen. Deren Strombedarf komplett durch erneuerbare Energien zu decken, ist
kaum vorstellbar. Wir müssen andere Fragen stellen, zum Beispiel: Was sind
sinnvolle Verkehrswege? Oder: Ist es in Zukunft wirklich notwendig, persönlich
ein Auto zu besitzen?

Bisher
hat der technische Fortschritt zwar unseren Lebensstandard ständig verbessert,
aber auf Kosten der Umwelt. Brauchen wir all diese Dinge wirklich? Nicht jede
Person muss alle zwei Jahre ein neues Handy haben. Ich glaube, wir müssen
zurück zu einer Art des Wirtschaftens, die an unseren wirklichen Bedürfnissen
orientiert ist.

ZEIT ONLINE: Welche Bedürfnisse meinen
Sie?

Lage: In der heutigen ökonomischen
Logik der Neoklassik sind die Bedürfnisse der Menschen grenzenlos, aber Zeit
und Geld sind knapp. Man hat also beispielsweise das Bedürfnis, ein Auto zu
besitzen, eine Jacht, ein Haus, was auch immer, aber wenig Geld. Deshalb muss
man sich zwischen den Gütern entscheiden. Wir denken genau andersherum. Wir
orientieren uns an dem chilenischen Ökonomen Manfred Max-Neef. Er definiert neun
Grundbedürfnisse, unter anderem nach Subsistenz, Zuwendung, Teilhabe,
Sicherheit, Freiheit
. Aber die Wege, diese Bedürfnisse zu befriedigen, können
sehr unterschiedlich sein.

ZEIT ONLINE: Das klingt jetzt sehr
akademisch.

Lage: Ein Beispiel: Das Bedürfnis nach
gesellschaftlicher Teilhabe kann ich befriedigen, indem ich mir ein dickes Auto
kaufe und mit ihm mobil bin. Ein anderer Weg wäre, einen kostengünstigen öffentlichen
Personennahverkehr für alle zu schaffen. Wie ich meine Bedürfnisse befriedige,
hängt ganz stark von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der
Infrastruktur ab.

ZEIT ONLINE: Sie wollen Das gute Leben
für Alle
. Das klingt super, aber wie soll ich mir das in meinem Alltag
vorstellen?

Lage: Zum Beispiel wie in Kopenhagen.
Dort fahren sehr viele Menschen mit dem Rad. Warum? In einer städtischen
Umfrage sagten die meisten: Es ist schneller, komfortabler und bequemer. Es
hält fit. Es ist günstiger, als das Auto zu nehmen. Erst ganz am Ende sagten
ein paar wenige Leute: Es ist ökologisch sinnvoll. In Kopenhagen wird also aus
genau den gleichen Gründen Fahrrad gefahren, aus denen die Leute anderswo das
Auto nehmen. Für die Stadtplanung heißt das, wir brauchen große Fahrradstraßen,
einen kostengünstigen Nahverkehr und müssen den motorisierten
Individualverkehr stark einschränken. Dann fühlt es sich nicht mehr wie
Verzicht an, mit dem Rad zu fahren.

ZEIT ONLINE: Im Moment funktionieren
die meisten Städte aber so nicht. Das Auto aufzugeben, wäre für viele Pendler eher
eine Einschränkung ihres guten Lebens und ein Verzicht auf Wohlstand.

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