/“Wir, die wir jung sind”: Mehr als nur King Lear in Indien

“Wir, die wir jung sind”: Mehr als nur King Lear in Indien

Preti Tanejas Wir, die wir jung sind beginnt in einem Flugzeug, das London – “die offiziellen Stempel der königlichen Parks, eine kahle, weiße Kuppel mit gelber Kronenähre” – schnell unter seiner Wolkendecke zurücklässt. Das lässt sich durchaus metaphorisch verstehen, bricht doch auch dieser ausgezeichnete Debütroman von einem altehrwürdigen Wahrzeichen englischer Kulturgeschichte zu Neuem auf. Taneja lässt die Handlung von Shakespeares König Lear mit nach Indien fliegen, samt mächtiger Männer und ränkeschmiedender Nachkommen. Sie selbst bezeichnet ihr episches Indienporträt als eine “Übersetzung” Shakespeares. Nun, da Claudia Wenner diese Übersetzung übertragen hat, lässt sich auch auf Deutsch lesen: Da ist noch mehr. 

Im Flieger nach Delhi sitzt Jivan, der nach 15 Jahren in den USA im wirtschaftlich aufstrebenden Indien mitmischen will, aber anstelle bequemer Karriereoptionen eine Geschäfts- und Familienkrise vorfindet. Devraj, der milliardenschwere Businesspartner seines Vaters, zerstückelt unerwartet das Unternehmensimperium und schreibt jeder seiner Töchter ein Drittel zu. Divide and rule: Was schon dem britischen Kolonialismus als Grundsatz diente, setzt auch in diesem patriarchal-kapitalistischen Szenario eine Gewaltspirale in Gang.

Zunächst verschwindet Sita. Die jüngste und rebellischste der drei Schwestern lässt Gargi und Radha allein mit der Verantwortung für Firma und den zunehmend unberechenbaren Vater zurück. Jivan wittert seine Chance auf Macht und bringt seinen bisher einflussreicheren Halbbruder Jeet mit einer einfachen Lüge zur Flucht: Seine heimliche Beziehung zu einem Mann sei aufgeflogen. Kaum hat sich Jivan als unentbehrlich für die neuen Chefinnen etabliert, läuft seine Erzählzeit ab, denn auch die wird – abgesehen von kryptischen Zwischenmeldungen Devrajs – gleichmäßig unter den Schwestern und Brüdern aufgeteilt.

Die Stimmen dieser fünf “Jungen” unterscheiden sich deutlich in Tonfall und Referenzrahmen. Behauptet sich die kulinarische Metaphern liebende Gargi gegen ihren Vater, schmeckt die Befriedigung “ungewöhnlich – Nimbo Pani mit zusätzlichem Salz”; ist ihr heiß, wird ihr eigenes Fleisch zu gebackenem Tandoori, das von den Knochen fällt. Sitas Erzählung hingegen ist von ihren Universitätsjahren in Cambridge geprägt, ihre Sprache weniger opulent. Sie beschreibt ihre Umgebung mit wissenschaftlicher Genauigkeit und achtet eher auf die “leuchtend grünen Stellen” in einem See, “wo Waschmittel, Düngemittel und Abwässer das Phytoplankton zum Blühen gebracht haben”.

Durch solche Kontraste konfrontiert Tanejas Roman auch mit der Frage, auf welcher kulturellen Grundlage bestimmte Sprach- und Erzählstile bevorzugt werden. So markiert der Text schon anfangs die Kritik an “widerlich klebrig[er]” Prosa “voller Schleifen und Windungen” als spezifisch westliche Perspektive. Der Kommentar stammt von Jivan, der stolz darauf ist, sich als Expat sämtlichen Geschmäckern anpassen zu können, und belustigt durch das Boardmagazin der indischen Airlines blättert.

Taneja spielt aber nicht nur mit Sprache, sondern mit Sprachen. Sie integriert neben Hindi auch Sanskrit und Urdu sowie das erfundene Napurthali in den Text. Ob man alle dadurch entstehenden Doppeldeutigkeiten mitbekommt, jedes Wort versteht? Gerade dieser Zweifel ist ein wertvoller Teil der Leseerfahrung, verweist doch auch er auf die Politik dieses Romans, der sich weigert, Indien leicht verdaulich und nach westlichem Geschmack gewürzt aufzubereiten. Zwar enthält die deutsche Veröffentlichung ein Glossar für wichtige Begriffe und einige Unübersetzbarkeiten, aber es empfiehlt sich, zunächst einmal die Begrenzungen der eigenen Perspektive auszuhalten.

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