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Russland: Risse in der Mauer

Aktualisierung 12.6.2019: Bei einer nicht genehmigten Solidaritätskundgebung für den russischen
Enthüllungsjournalisten Iwan Golunow, dessen Fall dieser Artikel aus der aktuellen Print-Ausgabe erzählt, sind am Mittwoch in Moskau mehr als 200
Menschen festgenommen worden
, darunter auch der bekannte Putin-Kritiker Alexej
Nawalny. Nach Angaben der Polizei beteiligten sich rund 1.200 Menschen an
der Kundgebung, wie die Nachrichtenagentur Tass meldete. Unter den
Festgenommenen sind auch Journalisten. 

Die Geschichte des 36-jährigen russischen Journalisten Iwan Golunow
beginnt wie unzählige Geschichten in Russland: Golunow, der laut seines Umfelds kaum Alkohol
trinkt und noch nie in seinem Leben Drogen konsumiert haben soll, wird im Zentrum von Moskau
festgenommen, bekommt von der Polizei Kokain und Mephedron untergeschoben und soll sich wegen
Vorbereitung zum Drogenhandel verantworten. Ihm drohen bis zu 20 Jahre Arbeitslager. Doch die
Geschichte endet wie wohl keine zuvor in Russland: Nicht einmal eine Woche nach seiner
Verhaftung verkündet der Innenminister persönlich, dass alle Vorwürfe gegenstandslos seien,
fallen gelassen werden und Iwan Golunow ab sofort ein freier Mann sei. Dafür rollen bei der
Polizei nun Köpfe. Die Duma kündigt an, die Drogengesetze ändern zu wollen – knapp ein Drittel
aller Häftlinge sitzt wegen Drogendelikten ein, und niemand weiß, wie viele von ihnen aufgrund
fadenscheiniger Vorwürfe bestraft wurden, weil die Polizei ihre Aufklärungsstatistik
aufhübschen will.

Wer auch immer gedacht hatte, dass er einen Investigativjournalisten wie Iwan Golunow einfach so beiseiteschaffen könne, hatte sich getäuscht. Nach seiner Festnahme begann eine einmalige Protestwelle: Journalisten demonstrierten für Golunows Freiheit vor der Polizeizentrale, viele junge Menschen schlossen sich an. Prominente Rapper, Schriftsteller und Publizisten riefen in Videoclips zur Solidarität auf. Die drei wichtigsten Wirtschaftszeitungen des Landes veröffentlichten gemeinsam auf ihren Titelseiten “Ich/Wir sind Golunow” – die Auflage war in Kürze ausverkauft. Für den 12. Juni, ein Nationalfeiertag, kündigten Journalisten die nächste Demonstration an. Die Dinge gerieten außer Kontrolle, und was sonst oft im Verborgenen bleibt, wurde nun öffentlich ausgebreitet: Golunows Verhaftung war eine Farce, publizierte Fotos aus seiner Wohnung waren gefälscht, bei den beschlagnahmten Beweismitteln fehlten seine Fingerabdrücke. Man konnte zusehen, wie der Machtapparat zurückruderte und sich auf informelle Verhandlungen mit Journalisten einließ, bis schließlich am Dienstag die Entscheidung über Golunows Freilassung verkündet wurde. Vordergründig betrifft sie nur das Leben eines mäßig bekannten Journalisten, aber in Wahrheit weist sie weit über den Fall hinaus. Das Spektakel der vergangenen Tage zeigt, dass eine schwarz-weiße Wahrnehmung Russlands, wie sie im Westen oft vorherrscht, falsch ist.

Zwei Mythen halten sich hartnäckig über das Land. Mythos eins: Putin ist eine Art Superschurke, der alles befehligt und kontrolliert. Mythos zwei: Die Medien in Russland sind allesamt gleichgeschaltet – und kritisiert doch jemand Putin, muss er um sein Leben fürchten. Doch erstens gibt es trotz aller Widrigkeiten und Gefahren noch immer unabhängige Medien in Russland. Vor allem dank ihnen wurde bekannt, wer hinter den Anschlägen auf Sergej Skripal in Salisbury steckt, wie der Kreml sich in ausländische Wahlen einmischt oder wie er Krieg in der Ostukraine und in Syrien führt.

Zweitens hat Iwan Golunow gar nicht über den Kreml geschrieben. Er beschäftigt sich mit Korruption in Russland, vor allem in Moskau. Er lieferte Beweise, wer von Bauprojekten in Moskau profitiert, wie illegale Kredite vergeben werden, wo die Familie des stellvertretenden Moskauer Bürgermeisters Immobilien kauft. Er vermutet, dass ihn die korrupte Begräbnisindustrie, die sich an Toten bereichert, loswerden wollte. Golunow war dabei, zu recherchieren, wie offenbar zwei hochrangige Geheimdienstler des FSB darin verstrickt sind. Bald darf jeder diese Recherche, die nicht erscheinen sollte, selbst lesen.

Schon Tage vor Golunows Freilassung, als ein Freispruch unvorstellbar schien, erklärte der Investigativjournalist Roman Dobrochotow in aller Ruhe, dass sein Kollege vermutlich bald freikommen werde: Die Verhaftung war offenbar eine Initiative, die am Kreml vorbeiführte, eingefädelt von irgendwelchen Geheimdienstlern, die wohl nicht wussten, wer Golunow ist. So einen Ärger kann der Kreml derzeit nicht gebrauchen. Dobrochotow hat mit aufgedeckt, wer die russischen Geheimdienstler sind, die in Salisbury Sergej Skripal umzubringen versuchten, wie sich Russland in Wahlen im Ausland einmischt und wie es an dem Abschuss der Boeing MH-17 über der Ostukraine beteiligt war. Man würde denken, dass einer wie er längst aus dem Verkehr gezogen sein müsste. Von wegen.

Russland: Iwan Golunow

Iwan Golunow
© Sebastian Bolesch für DIE ZEIT

Spricht man mit Dobrochotow und anderen Journalisten über ihre Arbeit in Russland, dann wird klar, dass sie sich in einem komplizierten Geflecht aus Gesetzen, informellen Regeln und Rivalitäten zurechtfinden müssen. Dieses System ist durch Machtkämpfe zwischen den Sicherheitsstrukturen, Interessenkonflikte und Neid geprägt. Das System ist unberechenbar, und diese Unberechenbarkeit ist einerseits für Journalisten, Menschenrechtler und Oppositionspolitiker hochriskant – andererseits schafft sie Nischen. “Es ist schwer zu verstehen, warum es gefährlicher ist, über einen Wald bei Moskau zu schreiben als darüber, dass Putin Leute im Ausland vergiften lässt”, sagt Dobrochotow. “Als ich zu Salisbury und Skripal recherchierte, sagten mir viele, dass ich hinter Gittern landen würde oder sie mich töten würden. Aber dann wäre ich heute nicht hier.”

Es gibt Risiken, die kalkulierbar sind. Dobrochotows Seite ist im Ausland registriert. Er hat keine Redaktionsräume, in die eingebrochen werden könnte, wie es gerade erst beim Magazin
snob
in Moskau passiert ist, er hat keine Arbeitscomputer, die beschlagnahmt werden könnten, keinen Investor, der unter Druck gesetzt werden könnte. Er glaubt – hofft? –, dass sein Medium, eine Website, zu groß sei, als dass sich ein kleiner Beamter daran vergreifen könnte, aber zu klein, um vom Kreml beachtet zu werden. Alles, was Dobrochotow braucht, ist ein Café, WLAN und seinen verschlüsselten Laptop. Seit Putins Wiederwahl 2012 werden nach und nach renommierte Journalisten aus den größeren Medien herausgedrängt. Also weichen sie auf kleine Online-Projekte aus. Dobrochotow ging mit
The Insider
2013 online. Jelisaweta Ossetinskaja, die frühere Chefredakteurin der Medienholding RBK, gründete mit Freunden das Online-Projekt
The Bell.
Ihr Kollege Roman Badanin baute sein investigatives Medium
Projekt
auf, das ebenfalls im Ausland registriert ist und sogar in Putins engstem Umfeld recherchiert. Er war es, der anderthalb Tage vor Iwan Golunows Freilassung berichtete, dass der Kreml sich des Falls angenommen habe und ihn schnellstens lösen wolle – schon nächste Woche hält Wladimir Putin seine jährliche Sprechstunde im Fernsehen, bei der man keine Zwischenfälle riskieren will.

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