/Landtagswahlen in Ostdeutschland: Ignoriert den Osten!

Landtagswahlen in Ostdeutschland: Ignoriert den Osten!

Wissen Sie, wie viele Leute in Brandenburg
wohnen? In Sachsen? In Thüringen? Es sind zusammen etwa 8,6 Millionen.
Das sind etwa 10 Prozent der Bevölkerung. Diese Zahl wird hier in Erinnerung gerufen, weil
in diesen drei Bundesländern im Herbst Wahlen anstehen. Aus den
aktuellen Wahlumfragen geht hervor, dass die AfD in allen drei Ländern
stärkste Kraft werden könnte
. Die Rechten freuen sich schon auf einen
“blauen Herbst” und alle anderen Parteien bereiten sich, soweit es ihnen
möglich ist, auf die Rückwirkungen auf die Bundespolitik vor.

Der Wahlschock aus dem Osten, so lautet die
These, die derzeit überall in Berlin zu hören ist, wird die politische
Agenda noch einmal durcheinanderwirbeln. Das Klimathema wird dann wieder
an Bedeutung verlieren, zugunsten von Migrationsthemen.

Das wirft eine Frage auf: Inwieweit soll sich die
Republik eigentlich vom Osten – genauer gesagt: von den Regionen im
Osten, in denen die AfD stark ist – die Themen aufzwingen lassen?

Wirtschaftlich haben diese Regionen kaum Relevanz

Diese Frage stellt sich nicht nur in Deutschland.
In fast allen Industrieländern hat sich in den abgehängten Regionen ein
Protestpotenzial herausgebildet, dass zum politisch handelnden Subjekt
wird. Donald Trump wäre nicht Präsident, wenn er nicht die Staaten des
Mittleren Westens für sich gewonnen hätte. Der Brexit hätte nicht
stattgefunden, wenn der Norden Englands nicht dafür gestimmt hätte. Der
Wirtschaftsgeograf Andrés Rodríguez-Pose von der London School of Economics hat das revenge of places that don’t matter genannt. Die Rache der Orte also, die ökonomisch betrachtet eigentlich keine Rolle spielen.

Es ist natürlich ein Versagen der Politik, dass
es solche Orte überhaupt gibt. Nach Daten des Ifo-Instituts leben in den
östlichen Bundesländern so wenig Menschen wie seit 1905 nicht mehr, im
heutigen Westdeutschland hingegen hat sich die Bevölkerung mehr als
verdoppelt. Wäre
die Einwohnerzahl in Ostdeutschland genauso gewachsen wie in
Westdeutschland, würden im Osten heute rund doppelt so viele Einwohner
leben. Dresden und Leipzig wären jeweils Millionenstädte.

Aber zur Wahrheit gehört auch: Es ist extrem
schwer, wenn nicht unmöglich, derartige regionale Abstiegsprozesse
umzukehren. Die Italiener haben das mit viel Geld im Mezzogiorno
versucht, allerdings mit eher bescheidenem Erfolg. Wenn die Industrie
erst einmal weg ist, kommt sie häufig nicht zurück. Ob die
milliardenschweren Strukturhilfen des Kohlekompromisses die Lausitz in
eine blühende Landschaft verwandeln, ist also fraglich. Es wäre schon
viel gewonnen, wenn es nicht weiter nach unten geht.

Das Problem wird sich also ökonomisch nicht so
leicht aus der Welt schaffen lassen. Was aber folgt daraus für die
Politik? Den Umfragen zufolge kommt die AfD in den Bundesländern, in
denen im Herbst gewählt wird, auf ungefähr 20 Prozent. Das sind etwa 1,7
Millionen Wähler, was wiederum rund zwei Prozent der Bevölkerung Deutschlands entspricht. Wenn
die von vielen erwartete Diskursverschiebung nach den Ostwahlen
stattfände, dann hätten zwei Prozent der Bevölkerung dem Rest des Landes
ihre Agenda aufgedrängt.

Der Osten also übt einen diskurspolitischen
Einfluss aus, der weit über sein sozioökonomisches Gewicht hinausgeht.
Auch das ist kein auf Deutschland begrenztes Phänomen. Zur Erinnerung:
Bei der letzten Präsidentschaftswahl haben deutlich mehr Amerikanerinnen und Amerikaner für
Hillary Clinton als für Donald Trump gestimmt. Trump ist nur Präsident
geworden
, weil nach dem amerikanischen Wahlsystem die Bundesstaaten eine
besondere Gewichtung haben und er in einigen der entscheidenden Staaten –
Pennsylvania, Wisconsin und Michigan – knapp vor seiner Konkurrentin
lag. Anders gesagt: Die Weltordnung liegt heute in
Trümmern, weil dort einige Leute Trump und nicht Clinton
gewählt haben. Das kann passieren, wenn man den Orten, die im Sinne
von Andrés Rodríguez-Pose keine Rolle spielen, zu viel politischen Einfluss zubilligt.

Wir sollten diesen Fehler nicht wiederholen. Man
muss die Sorgen der Menschen im Osten ernst nehmen, aber man muss sich
auch nicht alles gefallen lassen. Eine Minderheit darf nicht den Kurs
der Mehrheit bestimmen.

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