/Psychische Erkrankungen: Im Krieg gibt die Psyche nach

Psychische Erkrankungen: Im Krieg gibt die Psyche nach

Wenn die Bombe das Nachbarhaus trifft; wenn ein Mensch
seinen Bruder vor den eigenen Augen verbluten sieht; wenn die Stunden im Keller
länger und länger werden, weil immer noch Bomben auf die Stadt fallen; wenn ein
Kind verloren geht, weil eine Familie in der Nacht vor einer Schlammlawine fliehen
muss: Kann eine Psyche das aushalten oder zerbricht sie an dem Erlebten? Wird jemand zwangsläufig psychisch
krank, der Krieg und Krisen erlebt? Oder anders gefragt: Wie viele der rund
100 Millionen Menschen weltweit, die aus Kriegs- und Krisensituationen kommen (Global Humanitarian
Overview, 2019
), haben eine posttraumatische Belastungsstörung, eine Depression
oder Angststörung?

Die Antwort: Ungefähr ein Fünftel und damit dreimal so
viele wie Menschen in anderen Lebenslagen. Das zumindest schätzt eine Studie, die heute in der
Fachzeitschrift The Lancet (Charlson
et al., 2019
) erscheint. Die Metastudie, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern durchgeführt hat, ist die bisher erste wirklich ernstzunehmende
Schätzung. Sie beruht auf 129 Einzelstudien aus 39 Ländern, allein 45 dieser
Studien stammen aus den letzten sechs Jahren. Außerdem werteten die Autoren
Berichte von Regierungen und Konfliktdatenbanken aus, die sogenannte graue Literatur.
Sie seien sich deshalb sicher, dass die Studie die momentan “akkurateste” sei,
die es gebe, sagte die Hauptautorin Fiona Charlson von der Uni Queensland in
Australien.


© Bulent Kilic/AFP/Getty Images


22 Prozent


aller Menschen


in Konfliktgebieten sind psychisch krank.

Die neuen Schätzungen fallen höher aus als gedacht,
vor allem was schwere Fälle angeht. Hatte die WHO 2005 noch geschätzt, dass drei
bis vier Prozent aller Menschen in Krisengebieten eine schwere Depression, Trauma-
oder Angststörung haben (BMJ: Van Ommeren),
gehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der neuen Studie von fünf
Prozent aus. Dazu kommen dreizehn Prozent leichte und vier Prozent mittelschwer
ausgeprägte psychische Leiden.

Gewalt gegen Ärzte

Dass die Autorinnen und Autoren zwischen leichten, mittelschweren und
schweren Fälle unterscheiden, lobt die Psychiatrieprofessorin Cristiane Duarte von der
Columbia University in New York in einem Kommentar zur Studie (The
Lancet:
Duarte, 2019
). Das helfe besser nachzuvollziehen, welche und
wie viel Hilfe in Krisensituationen genau gebraucht wird. Zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob ein Mann, der
in Syrien eine Bombardierung überlebt hat und darüber große Ängste entwickelt, nur
eine ruhige Umgebung und eine medikamentöse Therapie braucht. Oder ob er eigentlich
eine stationäre Therapie mit Tabletten und einem Gesprächstherapeuten bekommen muss. Duarte
lobt außerdem, dass die Studie es vermeide, nur eine Form der psychischen
Krankheit, nämlich die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), zu
untersuchen und stattdessen auch Angststörungen, Depressionen, Schizophrenie und
manisch-depressive Störungen betrachte. Wobei es zum Vorkommen der letzten
beiden so gut wie keine verlässlichen Daten gibt.

Die Zahlen der Studie zeigten, dass mehr getan werden
müsse, um psychischen Krankheiten in Konfliktsituationen vorzubeugen und sie zu
behandeln, schreibt Duarte. Diese schnell nachvollziehbare Aussage ist tatsächlich aber aus verschiedenen Gründen gar nicht so
trivial. Da ist zunächst, dass Ärztinnen und Krankenpfleger in Konfliktparteien
immer wieder das Ziel von Angriffen werden, auch wenn diese gegen die Genfer
Konvention verstoßen (einen
ausführlichen Bericht dazu lesen Sie hier
). Im Bürgerkrieg im Jemen und Syrien
wurden viele Krankenhäuser durch Luftangriffe zerstört, Ärztinnen und Ärzte wurden
eingeschüchtert, getötet und verließen das Land (The
Lancet:
Fouad et al., 2017
). Zustände, die Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz und Ärzte ohne Grenzen seit Jahren kritisieren.

Weltweit gibt es viel zu wenige Psychiater

Hilfe für viele Menschen in Konfliktgebieten ist aber auch deshalb nicht in Sicht, weil es schlicht
an ausgebildetem Personal fehlt. Auch jenseits von Kriegen gibt es in den
weniger wohlhabenden Ländern dieser Welt kaum Psychiater (siehe Infobox). Dort werden Menschen
mit psychischen Krankheiten fast gar nicht behandelt oder an den Rand der
Gesellschaft gedrängt. Für viele Gesundheitswissenschaftler ist das eine der
größten Gesundheitskrisen der Welt. Das Resultat sei ein “monumentaler
Verlust menschlichen Potenzials und vermeidbares Leid”, heißt es in einem
Bericht von internationalen Expertinnen und Experten (The
Lancet Commission on Global Mental Health: Patel et al., 2018
).

Die Ergebnisse
und der Datensatz der am Mittwoch vorgelegten Studie machen deshalb noch einmal deutlich, dass
viel mehr getan werden muss, um die psychische Gesundheit der Menschen zu verbessern – und zwar weltweit.

Ein weiterer interessanter Punkt geht aus der Studie hervor: In Zukunft könnten Daten, wie sie nun veröffentlichten wurden, auch zeigen, wer trotz krassester
Erlebnisse nicht psychisch krank wird, wer also besonders resilient ist. Und daraus,
schreibt Duarte, könnte sich “eine eindrucksvolle Lektion ergeben, wie man die [psychische]
Last in Konfliktsituationen lindert.”

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